Klasel    Das war noch nicht Weihnachten. Dann dauerte es nicht mehr lange bis Weihnachten.
Er klopfte zuerst ans Fenster. Die beiden Mädchen, Sepp, die Eltern von Sepp, die Mutter, Detlev liefen schnell in die warme Küche. Die Eltern von Sepp nahmen ihre Kinder dicht an sich heran. Detlevs Mutter sah sich in der Küche um. Niemand setzte sich auf einen Stuhl. Niemand legte einen Apfel auf die Herdplatte. Sepp sägte nichts mit der Laubsäge. Alle standen in einem Winkel der Küche beieinander, der Tür gegenüber, weit weg von der Tür. - Wie weh tut es, wenn man gequält wird? Mutti hat es nicht geahnt, sonst hätte sie es anders gemacht. Es hörte sich an, als ob der Klasel so groß wäre wie der Elefant im Elefantenhaus an der Kette. Er schleifte an beiden Wänden des Flures entlang, er rasselte über die Fliesen, er stieß an die Decke des Flurs. Es polterte noch an der Außentür, da klopfte er schon an die Küchemür. Sepp und seine Schwestern weinten gleich.

- Auf dem Heuboden tut er so mutig. Detlev wollte nicht weinen.

Der Klasel schlug die Tür auf. Jetzt konnte Detlev nicht mehr weinen. Hinter seiner Stirn spannte sich alles - um seine Augen wurde alles hart und trocken. Detlev hätte sich gern umgedreht und wäre durch die Mauer hindurchgesprungen.

Der Klasel hatte keine Augen, keine Nase, keinen Mund. Sein Gesicht bestand aus einer platten, käsigen, schlappenden Fleischmasse. An Stelle der Augen hatte er kleine Wülste ohne Augenweiß, ohne Pupillen, ohne Lider, ohne Wimpern. Er hatte nicht wie der Totenkopf auf den Tschakos große Löcher an Stelle der Nase. Seine Nase war ein kleiner Wulst ohne Nasenflügel, ohne Nasenlöcher. Er hatte keine Ohren. Statt der Hände guckten aus den Ärmeln schwarze Klumpen ohne Finger, ohne Fingernägel, ohne Haare auf den Fingern. Mit den beiden Klumpen hielt er einen Sack. Auf dem Kopf wuchs ihm ein Zopf aus Eisen. Er muß den anderen die Finger abschneiden und die Ohren und die Nase. Er muß den Unartigen die Augen ausstechen und die Fingernägel ausziehen. Der Klasel trat einen Schritt in die Küche hinein. Er hatte keine Augen, er sah nicht den Anfang des Linoleums. Er fiel um wie ein Kran. Der Klasel lag mit seinem Käsekopf vor Detlevs Füßen. Die Mutter faßte Detlev an der Hand und ging mit ihm aus der Tür.

Wenn es dunkel wurde, durfte die Mutter Detlev nicht mehr alleine lassen. Detlev fing an zu schreien. Detlev fürchtete hinter den Fenstern, unter dem Bett, im Ofen könnte der Klasel stecken. Detlev wagte sich abends nicht mehr vor die Tür. Im Dunkeln morgens hatte er Angst, wenn er bis zur Chaussee alleine gehen mußte, wo er die anderen Kinder traf. Die Angst am Morgen war nicht so groß. Die Nacht ging vorüber. Die Dunkelheit wurde nicht mehr dicker und dicker, sondern sie verdünnte sich allmählich in das weiße Licht des Tages.

Auch am Tage fürchtete sich Detlev vor dem Kellerloch und dem Abortloch. Aus dem Abort hätte der Klasel hochtunken können mit seinem weißen Gesicht, das aussah wie das Fleisch an den Beinen von Sepps Vater. Die Mutter sagte:

- Der Klasel war kein Klasel. Es war der Knecht von nebenan. Er hatte eine Kuhglocke und eine Brunnenkette. Vor seinem Gesicht hing das Melktuch. Hab nicht solche Angst, sei ein tapferer Junge. Du hast doch gesehen, daß es ein ausrangierter Gardinenlappen war. Sepp sagte:

- Die Frau vom Klasel ist noch viel gefährlicher als der Klasel selbst. Sie zieht nur alle vier Jahre vorüber. Sie ist siebenmal so schlimm. Manchmal kommt sie unverhofft zwischendurch. Einen Tag später - einen Tag früher als ihr Mann. Sie ist ganz schwarz. Sie hat ein rotes und ein grünes Auge. Ihre Augen kann man schon von weitem durch die Nacht funkeln sehen. Aber dann ist es zu spät. Sie sieht einen immer zuerst. Sie findet einen in jedem Versteck. Sie holt jeden, den sie haben will. Sie peitscht die bösen Kinder durch, die artigen bekommen keinen Lohn von ihr. Oft nimmt sie welche mit. Die müssen für sie arbeiten. Ruten flechten und Knochen sortieren, Peitschen herrichten. Die Kinder kriegen nichts bei ihr zu essen. Sie knabbern sich vor Hunger selber an. Sie fressen sich die Haare vom Kopf. Und Haare sind in Wirklichkeit giftig. Pariert eins nicht, zieht sie ihm die Fußnägel oder die Fingernägel mit der Kneifzange aus. Das Schlimmste ist, man weiß nie genau, wann sie kommt und in welche Häuser sie einkehrt und wen sie mitnimmt. Vor ein paar Jahren hat sie morgens auf der Landstraße drei mitgenommen. Wir hatten sie dieses Jahr erwartet. Nächstes Jahr kommt sie bestimmt. Sie reitet.   - Hubert Fichte, Das Waisenhaus. Berlin 1985 (zuerst 1965)

Kinderschreck

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB
Weihnachtsmann

 

Synonyme