Kindheitsgerüche    Der Geruch eines aufgetriebenen toten Pferdes ist scheußlich, und unsere Straße war voll scheußlicher Gerüche. An der Ecke war der Laden von Paul Sauer, vor dem sich rohe und gegerbte Häute stapelten; auch sie stanken schrecklich. Und dann der ätzende Geruch, der von der Blechfabrik hinter dem Hause kam - wie der Geruch des modernen Fortschritts. Der fast unerträgliche Gestank eines toten Pferdes ist noch tausendmal besser als der brennender Chemikalien. Und der Anblick eines toten Pferdes mit einem Schußloch in der Schläfe, den Kopf in einer Blutlache und einem von der letzten krampfhaften Entleerung klaffenden After ist immer noch ein erfreulicherer Anblick als der einer Gruppe von Männern mit blauen Schürzen, die aus dem Torbogen der Blechfabrik kommen und einen mit frischgefertigten Blechplatten beladenen Handwagen vor sich herschieben. Zu unserem Glück lag der Blechfabrik gegenüber eine Bäckerei, und durch die rückwärtige Tür - die nur aus einem einfachen Gitter bestand - konnten wir den Bäckern bei der Arbeit zusehen und den süßen, unwiderstehlichen Duft von Brot und Kuchen einatmen. Und wenn, wie ich sagte, gleichzeitig die Gasrohre verlegt wurden, machte sich ein anderer seltsamer Mischmasch von Gerüchen bemerkbar - es roch nach frisch aufgeschaufelter Erde, nach verrosteten Eisenrohren, nach Kanalgas und den mit Zwiebeln belegten Broten, die die italienischen Arbeiter, an die aufgeworfenen Erdwälle gelehnt, verzehrten. Es gab freilich auch noch andere Gerüche, aber sie waren weniger aufdringlich; zum Beispiel der Geruch von Silversteins Schneiderwerkstatt, wo das Bügeleisen ständig in Betrieb war. Es war ein heißer, übler Mief, von dem man am besten einen Begriff bekommt, wenn man sich vorstellt, daß SÜverstein, ein magerer Jude, der selber stark roch, die Fürze ausbügelte, die seine Kunden in ihren Hosen zurückgelassen hatten. Nebenan war der Laden mit Schreibwaren und Süßigkeiten, der zwei verwelkten alten Jungfern gehörte, die sehr fromm waren; hier herrschte der fast Übelkeit erregende süßliche Geruch von Bonbons, kandierten Erdnüssen, Lutschstangen, Sen-Sen und Sweet-Caporal-Zigaretten. Dieser Schreibwarenladen war wie eine schöne Höhle, immer kühl, immer voll aufregender Dinge. In der Milchbar, die einen anderen eigentümlichen Geruch ausströmte, gab es eine dicke Marmorplatte, die im Sommer einen säuerlichen Geruch annahm, der sich jedoch angenehm mit dem leise kitzelnden, trockenen Geruch des kohlensauren Wassers vermischte, wenn es in das Glas mit dem Eiskrem zischte.

Als sich die Sinne mit zunehmender Reife schärften, verblaßten die Gerüche und wurden durch einen anderen, ausgesprochen einprägsamen und ausgesprochen angenehmen Geruch ersetzt -den Geruch der Möse. Genaugenommen durch den Geruch, der an den Fingern haftet, nachdem man an einer Frau herumgespielt hat; denn falls man es vorher noch nicht bemerkt hat: dieser Geruch ist sogar noch erfreulicher, vielleicht weil ihm mehr der Duft des Gewesenen als der Geruch der Möse selbst anhaftet. - (wendek)

Geruch Kindheit

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