Kind, erwachendes    Vorsichtig hob er die Decke. Die Kleine schlummerte fest und selig. Sie war unter der Decke warm geworden, und ihre vorher so bleichen Wangen hatten wieder Farbe bekommen. Doch sonderbar: dieses Rot schien greller und stärker zu sein, als es für gewöhnlich auf Kinderbacken leuchtet. Das ist wie Fieberröte, dachte Swidrigailow; das ist wie die Röte nach Alkoholgenuß, als hatte man ihr ein ganzes Glas Wein zu trinken gegeben. Die roten Lippen schienen zu brennen und zu lodern. Aber was ist denn das? Plötzlich kam es ihm so vor, als ob die langen schwarzen Wimpern erzitterten und blinzelten und sich hoben, und darunter sahen listige, scharfe, irgendwie ganz unkindlich zwinkernde Augen hervor, als schliefe das Mädchen gar nicht, sondern stellte sich nur schlafend. Wahrhaftig, so war es: ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln; die Mundwinkel zuckten, als hielte sie sich noch zurück. Doch jetzt gab sie es auf: da war schon ein Lachen, ein deutliches Lachen; etwas Freches und Herausforderndes schimmerte in diesem' ganz und gar unkindlichen Gesicht auf; das war das Gesicht einer Dirne, das dreiste Gesicht einer käuflichen französischen Hure. Jetzt verbarg sie sich nicht mehr und öffnete beide Augen; diese umfingen ihn mit einem feurigen, schamlosen Bück; sie lockten ihn; sie lachten ... Etwas unendlich Häßliches, Beleidigendes lag in diesem Lachen, in diesen Augen, in diesem ganzen abscheulichen Ausdruck des Gesichtes einer Dirne. Wie! Eine Fünfjährige! flüsterte Swidrigailow entsetzt. Was ... was hat das zu bedeuten? Jetzt wandte sie ihm das feuerrote Gesichtchen voll zu, sie streckte die Arme aus . . . Ach, du Verfluchte! rief Swidrigailow voll Grauen und hob die Hand gegen sie ... doch in diesem Augenblick erwachte er.    - Fjodor M. Dostojewskij, Schuld und Sühne. München 1987 (zuerst 1866)
 

Kind Erwachen

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