iffen    Plötzlich war es Studer, als schnappe in seinem Kopfe etwas ein - es war ein merkwürdiges Gefühl. Ein Zahnrad dreht sich neben einem anderen, das still steht. Ein Hebel wird umgestellt - die Zähne des rotierenden Rades greifen m die Zähne des ruhenden - nun drehen beide sich... Dieses Einschnappen vollzog sich, weil der Berner Wachtmeister plötzlich die beiden Karten sah, die in Bern sowohl als auch in Basel in der obersten Reihe des ausgelegten Spieles lagen: der Schaufelbauer! der Pique-Bube! Schaufeln - die Unglücksfarbe. Der Schaufelbauer - der Tod. Merkwürdig, dachte Studer, wie unser Gedächtnis manchmal funktioniert: wir speichern Bilder auf und vergessen sie wieder - und plötzlich taucht solch ein vergessenes Bild aus der Versenkung auf, ist entwickelt, kopiert - ganz scharf...

Mit gekreuzten Beinen saß Achmed in seiner Ecke und stieß Rauchwolken aus. Und so vertieft war Wachtmeister Studer in seine Gedanken, daß er gar nicht merkte, wie er selbst sich zu Boden gleiten ließ, - aber es gelang ihm nicht, kunstgerecht auf seine eigenen Absätze zu hocken. Er streckte die Hand aus - denn er war zu sehr mit seinen Überlegungen beschäftigt, um selbst eine Pfeife zu stopfen - er streckte die Hand aus und dann zog er träumend an einem Mundstück, atmete den Rauch tief in die Lungen ein und stieß ihn wieder von sich. »Noch eine«, murmelte er.

»Bruder«, belehrte ihn Achmed, »du mußt sagen: Amr sbsi - das heißt: füll mir die Pfeife ...«

Und gehorsam wiederholte Studer: »Amr sbsi!«

Der Rauch kratzte ein wenig im Schlund, aber im Kopfe begann es farbig auszusehen.

»Amr sbsi...« Achmed lächelte. Er hatte breite Zähne. Weiß war das Licht der Azetylenlampe im gekalkten Zimmer. Aber wenn man durch die Wimpern blinzelte, dann tanzten alle Regenbogenfarben Gavotte.

»Mlech?« fragte Achmed. Studer nickte. Es kam ihm vor, als spreche er ausgezeichnet Arabisch. »Mlech« - das hieß natürlich: »Gut.« Eifrig nickte der Wachtmeister und wiederholte: »Mlech, mlech!«

Einen Augenblick wurde er wieder nüchtern und ver-. suchte sich auf das Datum des heutigen Tages zu besinnen. Er wollte diese Frage auf arabisch stellen, aber da war ihm der heimatliche Dialekt im Wege; doch auch dieser wollte nicht über seine Lippen. Es wurde ein brummendes Gestammel aus der Frage, obwohl Studer überzeugt war, sie sehr klar gestellt zu haben.

Achmeds Gesicht drückte lächelndes Erstaunen aus. Und dann machte Achmed drei Gesten, die Studers westeuropäische Einstellung zur Zeit in ihren Grundfesten erschütterte. Ein Vorstrecken der flachen Hände, ein Heben der Arme und die Hände fielen zurück auf die Knie, dann hob sich die Rechte mit aufgerecktem Zeigefinger, während die übrigen Finger sich zur Faust schlössen; der aufgereckte Zeigefinger aber legte sich auf den Mund und nachher deutete er gen Himmel...

Und so ausdrucksvoll waren diese Bewegungen, daß Studer sie mühelos übersetzte:

»Mensch! Bruder! Wie willst du die Zeit halten in deinen offenen Händen, verzweifeln mußt du, wenn du an die Ewigkeit denkst... Er aber, der dort oben thront, der Ewig-Schweigende, was kümmert Er sich um die Zeit, Er, dem die Ewigkeit gehört?«

Der Wachtmeister dachte dunkel, nun, da er diese Bewegungen gesehen und verstanden hatte, würde er unfähig sein, jemals wieder seine Tätigkeit an der Berner Fahndungspolizei aufzunehmen. Er sah sich am Morgen aufstehen, sich rasieren... In der Wohnung duftete es nach Kaffee. Schon halb acht. Um acht mußte er im Amtshaus sein, auf seinem Bureau ... Aber was ist das? Zwei Hände breiten sich flach aus, ein Zeigefinger reckt sich gen Himmel ... Ins Bureau? Wozu? Das Amtshaus, der Dienst, die Segnungen der westlichen Kultur: Betriebsamkeit, Arbeit nach der Uhr, Dienstzeit, der Lohn am Monatsende, wo waren sie geblieben? Wozu dies alles? Um Allahs willen, wozu?... Man versank im Meere der Ewigkeit, man starb. Was nützte alles Tun? Warum nahm man sich so wichtig, reiste mit falschen Pässen, suchte nach verschwundenen Leuten, wollte einen Schatz heben? Nur ein winziger Tropfen war man doch im Nebelschwaden der Menschheit - und verdunstete...

Immer noch saß der Mulatte dem Wachtmeister gegenüber, und sein Gesicht sah aus wie das ewig junge Antlitz eines fremden Gottes...

»Amr sbsi!... Füll mir die Pfeife!«

Die Pfeife, die winzige, fingerhutgroße Tonpfeife wurde gefüllt, und neben dem Wachtmeister stand plötzlich eine Tasse, der edle Wohlgerüche entströmten. Aber Studer war nicht mehr fähig, festzustellen, daß dieser himmlische Trank ganz einfacher Tee war, in dem ein paar Minzenblätter schwammen. Er trank, trank...

Woher kam die Musik? Ein toller Tanz stampfte vor seinen Ohren, und er sah Frauen, die ihre Fußspitzen weit über ihren Kopf schleuderten. Dann roch es nach Rosen, nach vielen gelben Rosen, der Wachtmeister legte sich ins feuchte Moos, rings um ihn breitete ein Garten sich aus -der duftete nach Erde und Gewitterregen. Noch einmal wurde ihm die Pfeife in die Hand gedrückt; nun drehten sich Sterne vor seinen Augen und beschrieben riesige Kreise... Und die Musik? Die Musik, die ertönte?

Sie klang, als werde der Bernermarsch von himmlischen Heerscharen gespielt...

... Später sollte Studer noch oft, etwa beim Billardspielen dem Notar Münch, die Wonnen des Haschischrausches schildern; aber meist gingen ihm nach einiger Zeit die Eigenschaftswörter aus und er endete dann mit dem stärksten Superlativ, der ihm zur Verfügung stand:

»Suber!« sagte er. »Cheibe suber isch es gsy!« ...   - Friedrich Glauser, Die Fieberkurve. Zürich 1989 (zuerst 1937)

 

Rauchen Kiffer

 

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