Clemens Brentano, Gockel, Hinkel
und Gackeleia
Kausalkette (2) Mein Vetter Roger erzählt,
daß der Erzbischof von Canterbury sich jetzt eine Geliebte hält, was offenbar
allgemein bekannt ist. Lady Castlemaine hat sich in den jungen Jermin verliebt;
sie hat jetzt öfter mit ihm geschlafen als mit dem König. Sie ist aber wütend,
weil Jermin Lady Falmouth heiraten will, der König ist wütend, weil sie sich
mit Jermin abgibt - so sind alle wütend und verrückt in unserem Königreich.
- Samuel Pepys, Tagebuch v. 29. Juli 1667, nach (
enc
)
Kausalkette (3) Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte ein Pariser Bauer ein Kind; dieses Kind hatte wiederum ein Kind; und dieses Kind wiederum ein Kind; dann gab es ein weiteres Kind . . . und das letzte Kind spielte als Welt-Champion ein Tennismatch auf dem repräsentativen Platz des Racing Club de Paris in einer Atmosphäre großer Spannung und unter unaufhörlichem, elementarem, donnerndem Applaus.
Jedoch (wie irrsinnig trügerisch ist doch das Leben!) wurde ein gewisser Oberst der Zuaven unter dem Publikum, das auf der Seitentribüne saß, plötzlich neidisch auf das fehlerlose und hinreißende Spiel beider Champions, und, um den sechstausend Zuschauern zu zeigen, was er konnte - um so mehr, als seine Verlobte neben ihm saß -, zog er unverhofft seinen Revolver und ballerte auf den zwischen den beiden Spielern hin und her fliegenden Ball. Der Ball platzte und fiel. Die Champions aber, jählings ihres Objektes beraubt, schlugen noch einige Zeit mit ihren Rackets ins Leere; doch die Unsinnigkeit ihrer Schläge ohne Ball einsehend, warfen sie sich mit den Krallen aufeinander. Donnernder Applaus erdröhnte unter den Zuschauern.
Und damit wäre wohl alles zu Ende gewesen. Aber es trat noch der zusätzliche Umstand ein, daß der Oberst in der Aufregung vergessen oder auch nicht beachtet hatte (wie sehr muß man doch achtgeben!), daß sich auf der gegenüberliegenden Seite des Tennisplatzes die sogenannte Sonnentribüne mit Publikum befand. Er hatte - wer weiß - geglaubt, daß das Geschoß nach dem Einschlag in den Ball nicht weiterfliegen werde; indessen flog es leider weiter und traf einen Industriellen und Reeder in den Hals. Das Blut spritzte aus der durchschlagenen Arterie. Die Frau des Verwundeten wollte sich unter dem ersten Eindruck auf den Oberst stürzen, ihm den Revolver entreißen, doch weil sie nicht konnte - denn sie war in der Menge gefangen -, gab sie einfach ihrem Nachbarn zur Rechten eine ins Gesicht. Und sie gab sie ihm, weil sie ihrer Empörung nicht anders Luft machen konnte, und weil sie in den tiefsten Falten ihres Ich und durch reine Frauenlogik veranlaßt, glaubte, ihr als Frau sei das erlaubt, denn wer würde ihr schon was tun?
Es zeigte sich jedoch (wie muß man doch ständig alles in Rechnung ziehen), daß es nicht ganz stimmte, denn der Geohrfeigte war ein heimlicher Epileptiker, der durch die Ohrfeige eine psychische Erschütterung erfuhr, einen Anfall bekam und wie ein Geysir in Konvulsionen und Zuckungen ausbrach. Die Unglückliche sah sich zwischen zwei Männern, von denen der eine Blut, der andere Schaum spie. Donnernder Applaus erdröhnte unter den Zuschauern.
Da sprang ein Herr, der nicht weit von ihr saß, in wahnsinniger Panik einer Dame, die unter ihm saß, auf den Kopf; diese sprang los wie ein durchgehendes Pferd und trug ihn in vollem Lauf auf den Platz hinaus. Donnernder Applaus erdröhnte unter den Zuschauern. Aber es trat noch ein anderer Umstand ein (wie muß man doch immer alles voraussehen), daß nämlich in der Nähe ein bescheidener, geheimer, emeritierter Träumer aus Toulouse saß, der seit eh und je bei allen öffentlichen Darbietungen davon geträumt hatte, unter ihm sitzenden Personen auf den Kopf zu springen, und sich bisher nur mit aller Gewalt davon zurückgehalten hatte. Von dem Beispiel mitgerissen, sprang er im Nu auf die unter ihm sitzende Dame (es war eine erst kürzlich aus Tanger in Afrika gekommene kleine Beamtin), die in der Meinung, es gehöre sich so, es sei das ein großstädtischer Brauch, ebenso mit ihm durchging, wobei sie sich bemühte, keinerlei Scheu in ihren Bewegungen an den Tag zu legen.
Und da begann der kultiviertere Teil des Publikums taktvoll zu klatschen,
um den Skandal gegenüber den Vertretern ausländischer GesandtschafteTeil nahm
den Applaus als Zeichen des Beifalls - und bestieg ebenfalls seine Dame. Die
Ausländer zeigten sich mehr und mehr erstaunt. Was blieb angesichts dessen dem
kultivierteren Teil der Gesellschaft übrig? Um allen schlechten Eindruck zu
verwischen, bestieg auch er seine Damen.
- (
fer
)
Kausalkette (4) Ein
geniales Argument brachte Philip Henry vor, um die Bibel mit
Darwin, die Genesis mit den Entdeckungen der Paläontologie zu versöhnen. Die
Weltgeschichte, sagt er, ist durch eine unerbittliche
Abfolge von Ursachen und Wirkungen bestimmt. Zustand A führt zu Zustand B und
impliziert Zustand Z. Umgekehrt setzt Zustand Z Zustand A voraus. Gott jedoch
kann die Geschichte vollständig anhalten, beispielsweise bei Zustand T. Genauso
konnte er die Welt auch erst bei Zustand E erschaffen. Die Zustände A, B, C
und D werden dadurch nicht annulliert. Die Menschheit und die Natur erinnern
sich an sie, ohne daß sie existiert haben. Der erste Augenblick der Welt, die
Schöpfung, impliziert nicht nur eine Zukunft, sondern
auch eine Vergangenheit, und Adam besitzt nach dieser Hypothese einen Bauchnabel,
ohne daß ihn eine Nabelschnur mit einer Mutter verbunden hat. Auch hat man Skelette
prähistorischer Tiere gefunden, ohne daß diese Tiere gelebt haben, denn die
Zeit ihrer Existenz lag vor der Schöpfung.
- Emmanuel
Carrère, Kleopatras
Nase
. Berlin 1993
Kausalkette (5) »Ach, mein lieber Candide,
Sie haben doch Paquette gekannt, das hübsche Zöfchen der Baronin ? In ihren
Armen habe ich alle Wonnen des Paradieses gekostet, und die haben die Höllenqualen,
die mich nun verzehren, in mir angefacht! Sie war durch und durch verseucht
und ist wohl auch daran gestorben. Paquette verdankte dieses Geschenk einem
grundgelehrten Barfüßermönch, und der hatte es aus erster Hand, denn ihm hatte
es eine steinalte Gräfin angehängt, die es wiederum von einem Rittmeister bekommen,
der es seinerseits von einer Marquise bezogen hatte; die aber hatte es bei einem
Pagen erwischt, und der hatte es von einem Jesuiten, dem das Übel seinerzeit,
als er noch Novize war, in gerader Linie von einem Gefährten des Christoph Columbus
eingeimpft worden war. Was mich betrifft, so werde ich's keinem mehr weitergeben,
denn mit mir ist's aus.« - Voltaire,
Candide oder Der Glaube an die beste der Welten, nach (
vol2
)
Kausalkette (6)
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