artenlesen Tatsächlich
deuteten auf der Karte ein paar summarische Zeichen ausgedehnte Flächen an -
vielleicht mit nur wenig Wasser bedeckte Erde, vielleicht kaum flüssige Tümpel;
und ganz hinten: das, was ich als Vulkane bezeichnet habe. Dies also die Karte.
Die Nacht, die man mir vorschlägt, ist für mich neu, hat aber mit dem, was ich
auf der Karte gesehen habe, eines gemeinsam: eben die Vulkane. Im Hintergrund,
dort wo sich in irdischen Gebieten der Horizont befände, sehe ich Feuersignale;
wenige, zwei, drei, auch nicht stark; aber an diesem Ort, der alle Schattierungen
von Silber und Argillit, alle Töne von Schwarz und Grau probiert und praktiziert,
ist dieses Feuer - in wie weiter Entfernung? Wie weit zum Sumpf gehörig? - außerordentlich
beunruhigend. Wenn ich annehme, daß die Feuer ein Teil des Sumpfs sind, dann
kann ich phantasieren, daß sie vom Sumpf erfunden wurden - in Wahrheit habe
ich bisher noch nie ein Indiz dafür gefunden, außer in jenen Zeichen auf der
Karte - um seine Verkleidung vollkommen zu machen; irgendwie ist diese Verkleidung
endgültig; die besonders akkurate, ja pedantische Dunkelheit, die schweigende
Warnung jener fernen Feuer bewirken, daß der Sumpf gänzlich unsichtbar ist,
ich muß sogar sagen, inexistent; denn es ist schließlich die Betrachtung, die
den Sumpf existent macht, nicht war? Ich kann also sagen, daß der Sumpf nicht
existiert; ein homogener Nachtraum erstreckt sich von meinem Fenster bis hin
zu dem, was ich als die Vulkane bezeichne. Wenn ich jene Feuerorte betrachte,
die ich in äußerster Ferne vermute, bemerke ich, daß sie flackern wie die Flammen
einer unruhigen spaltzüngigen Hölle, und daß sie unter ihrer affirmativen Färbung
jenen klugen Betrug verbergen, jene geduldige Manipulation der Botschaft, die,
wie mich dünkt, die Majestät des Sumpfs enthält. Das Verschwinden des Sumpfs
scheint mir eher eine Geste theatralischer Selbstverleugnung zu sein als eine
glaubwürdige Verwandlung; der Sumpf möchte sich als treuer Gespons der Finsternis
aufspielen, als ihre Rolle, ihre Rechtfertigung, oder vielleicht auch als verschlagene
Komplizenschaft. Der Sumpf hört meiner Meinung nach nicht auf zu existieren,
sondern vollzieht seine Verwandlung nur scheinbar in Form von Dunkelheit oder
in Form von Abwesenheit; es ist wohl wahrscheinlicher, daß diese Dunkelheit
und diese Feuer, die das Auge ablenken, ein kühnes und schwieriges Projekt einer
Verwandlung verbergen wollen, nämlich das, sich als unausfüllbaren Abgrund zu
erfahren, als selbstgenügsamen Abgrund, in sich geschlossenen Abgrund, Abgrund,
in den man nicht hineinstürzt, Requisitenabgrund, gleichsam Künstlergarderobe
für alle erdenklichen Verwandlungen des Sumpfs und derjenigen, die aus dynastischen
Gründen dort verkehren; ein Abgrund also, in dem ich als Liebhaber, Mörder,
Tyrann, Monarch und Priester verkehre. Der solchermaßen vor sich selbst und
den anderen geheimgehaltene Sumpf ist unbetretbar, ist vielleicht der figürliche
Gipfel des Sumpfs, ist der Sumpf als nicht mehr aktive Negativität, Sein des
Nichtseins; der Sumpf als Rätsel.
Die Betrachtung der Feuer, die ich Vulkane genannt habe, wirft
Fragen auf: ob jene Flammen Grenzpunkte des Sumpfs sind, ob der Sumpf noch weiterreicht
und die Feuer demnach zu ihm gehören, ob diese Feuer die Existenz von etwas
signalisieren, das in den Sumpf eindringen will und vielleicht auch kann - eine
Alternative zum Sumpf. Aber ist eine solche Alternative überhaupt denkbar? Und
ich kann auch nicht umhin mich zu fragen: wie und in was für einer Beziehung
stehen denn diese sogenannten Vulkane zum Sumpf? Zum Beispiel: befinden sie
sich innerhalb der Grenzen des Sumpfs? Meine Kenntnis und Erfahrung beschränkt
sich auf einen unterschiedlich kompakten Sumpf, aber ohne Löcher, ja ohne einen
Untergrund, der nicht wiederum ein Sumpf ist; es kann sein, daß dort unten,
an jenem Ort, den ich weit weg vermute, der Sumpf eine Verwandlung erleidet,
die ihn entstellt, so daß er gezwungen ist, das glühende Gewicht der Vulkane
auf sich zu nehmen; aber ich konnte mir auch denken, daß der Sumpf selbst geeignet
ist, Vulkane zu erschaffen, obwohl mich das zwänge, meine Vorstellung vom Sumpf
zu ändern, dem ich im übrigen eine grenzenlose Fähigkeit zur Verwandlung nie
abgesprochen habe; außerdem könnte die Bezeichnung Vulkan ja auch ein scharfsinniger
aber unglaubwürdiger Anthropomorphismus sein, denn wahrscheinlich kann man auch
die Hölle in anthropomorpher Gestalt je nach Laune als Vulkan oder Gartengrill
definieren. - Giorgio Manganelli,
Der endgültige Sumpf. Berlin 1993 (zuerst 1991)
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