ungfrauentherapie
Zum Beispiel gibt es einen Riesen mit drei Gesichtern und
sechs Händen, ein eklatanter Fall der Fusion von drei Individuen in eines, das
heißt eineiige siamesische Drillinge mit einer nicht vollständigen Dreiteilung
der Eizelle. Auch wenn diese Fusion dem Anschein nach als Nutzen erscheinen
mag, weil man mehr Gliedmaßen, Nasen, Augen und Ohren zur Verfügung hat, verbirgt
sich dahinter in Wahrheit eine schwere, nicht genau definierte Krankheit, von
der keine Genesung möglich ist und die nur unter Kontrolle gehalten werden kann,
indem man regelmäßig das Blut eines weiblichen, jungfräulichen Menschen einnimmt.
Ich erfinde nichts, das steht alles geschrieben. Da ein junges weibliches Wesen
eher jungfräulich ist als eine reife Frau, besteht die vordringlichste Sorge
dieses siamesischen Riesen darin, junge weibliche Wesen zu finden, dann festzustellen,
ob sie Jungfrauen sind oder nicht, sich das bestätigen zu lassen und dann regelmäßig
ihr Blut zu trinken, das heißt alle soundsoviel Stunden. In der damaligen Zeit
gab es noch keine Bluttransfusionen und keine Blutgruppen, es war auch nicht
möglich, das Blut in der kolloiden Form als Plasma zu bekommen, um in Transfusionszentren
einen Vorrat aufzubewahren. Es gab in Wahrheit auch keine objektive (und sichere)
Methode, um die Jungfräulichkeit des Spenders (der Spenderin) festzustellen.
Auch die Gynäkologie als Zweig der Medizin gab es noch nicht, wer machte also
die klinischen Untersuchungen? Doch der Riese durfte nichts riskieren, nicht
dem Wort trauen, um dann womöglich durch ein wirkungsloses, schon zu sehr missbrauchtes,
für ihn schädliches Blut vergiftet zu werden. Daher hatte er sich folgende Prozedur
ausgedacht. Er raubte eine Frau (eine alle soundsoviel Tage) und brachte sie
in ein Gefängnis, wobei er ihr sagte, sie müsse für immer dort bleiben. Den
Grund dafür sagte er ihr nicht. Dann ließ er ihr jeden zweiten Tag von einer
mütterlichen, verständnisvollen Frau -gute, hervorragend gekochte Speisen in
die Zelle bringen. An den anderen Tagen aber gab es rudimentäre, schlecht zubereitete
Speisen mit einer geringen Menge von Proteinen und Kohlehydraten, gerade für
den schlimmsten Hunger. Senden wurden sie von einem nackten Zwerg,
der während seines Dienstes ein Gehänge von
beachtlicher Länge zur Schau stellte, wie es die Zwerge gewöhnlich haben oder
haben sollen (aber hier schwört Cassio von Narni, es sei keine Mär). Der Zwerg
war unwirsch, ließ aber durchblicken, dass er dem Beischlaf nicht abgeneigt
sei oder auf jeden Fall für die Zukunft oder den Rest der Tage daran denke.
Nach einem Monat dieser Abwechslung wurde das eingeschlossene weibliche Wesen
gefragt, von wem es für den Rest der Tage bedient werden wolle. Und die Antwort
gab ein untrügliches Zeichen dafür, ob die Frau schon mit der sexuellen Sphäre
vertraut war oder noch unwissend, eine Jungfrau, die ihrer Mama nachweinte.
Danach schritt man zur Transfusion, wenn das Zweite der Fall war. Aber es stellte
sich heraus, dass es nur wenige Naive gab, wodurch man viele weibliche Wesen
vergeudete, denn auf jeden Fall wurden sie umgebracht (man weiß nicht, ob von
dem Zwerg selbst mit seinem Instrument oder von dem gereizten Riesen). - Ermanno Cavazzoni, Das kleine Buch der Riesen. Berlin
2010
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