unge   Er war ein Heranwachsender von vielleicht vierzehn Jahren, hatte schwarzes Haar, schwarze Augen, ein olivenförmiges Kinn und einen merkwürdig leeren Blick, dem man geistige Zurückgebliebenheit sofort ansah. Als ich vorüberging, verneigte er sich respektvoll; dem Gärtner hörte ich ihn mit einer merkwürdig rauhen Stimme antworten, die meine Aufmerksamkeit erregte; man hatte den Eindruck, als spreche er von tief unter der Erde; seine Worte formte er mit einem seltsamen Zischen, das sich etwa anhörte wie das Schnarren beim Auslösen eines alten Fotoapparates. Ich sah, daß er sich eifrig bemühte zu tun, was man ihm aufgetragen hatte, daß er anstellig und gehorsam war. Morgan, der Gärtner, der seine Mutter kannte, versicherte mir, er sei absolut harmlos. «Er war leider schon immer ein wenig bekloppt», sagte er, «das ist ja auch kein Wunder nach allem, was seine Mutter vor seiner Geburt durchgemacht hat. Ich kannte auch seinen Vater, Thomas Cradock, er war ein guter Arbeiter. Er bekam etwas mit der Lunge, weil er ständig in den feuchten Wäldern arbeiten mußte, und hat es nie ganz auskuriert. Er starb dann ganz plötzlich. Mrs. Cradock, so erzählen die Leute im Dorf, sei damals fast verrückt geworden. Jedenfalls wurde sie von Mr. Hillyer aus Ty Coch dort oben auf den Grauen Hügeln gefunden, wo sie zusammengekauert am Boden lag und schluchzte und heulte wie eine verlorene Seele; Jervase wurde dann etwa acht Monate später geboren, und ich sagte ja bereits: er war von Anfang an etwas seltsam. Schon als er noch kaum laufen konnte, soll er die anderen Kinder mit seinen merkwürdigen Lauten furchtbar erschreckt haben.» - Arthur Machen, Die Geschichte vom schwarzen Siegel. In: A.M., Die leuchtende Pyramide. Stuttgart 1983. Die Bibliothek von Babel Bd. 16, Hg. Jorge Luis Borges

JUNGE (2) Verwirrend, häßlich - der Gestank von Purin in den an seinen Zellenwänden verschmierten Exkrementen deutet auf beachtliche Überdosen Largaktil hin - und dennoch seltsam inspirierend. Als er mich nach Daventry einlud, sprach Direktor Henson, wie alle anderen im Home Office, von ihm als dem »Jungen«, aber ich glaube, mittlerweile hat er sich die Großbuchstaben verdient. Jahre der Verlegungen, von Rampton nach Broadmoor bis zum Sicherheitstrakt des Home Office in Daventry, konnten ihn nicht bändigen.

Er stand in der Duschkabine des Strafvollzugsflügels, trug eine Zwangsjacke aus festem Segeltuch und wurde offensichtlich von dem grellen Licht verrückt gemacht, welches sich in den weißen Kacheln widerspiegelte, die mit dem Blut aus einer klaffenden Platzwunde an seiner Stirn verschmiert waren. Er ist viel umhergestoßen worden, und er wich vor mir zurück, als ich mich ihm näherte, aber ich fühlte, daß er einen körperlichen Angriff beinahe herausforderte, um sich selbst zu reizen. Er ist viel kleiner, als ich erwartete, und er sieht wie siebzehn oder achtzehn aus (in Wirklichkeit ist er inzwischen neunundzwanzig), aber er ist immer noch kräftig und gefährlich - Präsident Reagan und Ihre Majestät hatten wahrscheinlich großes Glück, daß sie ihm entkamen.

Anmerkungen: fehlende Kronen an beiden Eckzähnen, Kontaktdermatitis der Kopfhaut, linkshändiger Intentionstremor und Anzeichen einer hysterischen Photophobie. Er schien vor Angst zu keuchen, und Direktor Henson versuchte, ihn zu beruhigen, ich jedoch vermute, daß er weit davon entfernt war, Angst zu haben, und lediglich Verachtung für uns empfand und vorsätzlich zuviel Sauerstoff einsog. Er sang etwas, das sich wie »Allahu akbar« anhörte, den austreibenden Gott-ist-groß-Ruf der tanzenden Derwische, mit dem sie ihre Halluzinationen hervorriefen, dieselbe Sauerstoffüberflutung des Gehirns, wie sie, in schwächerer Form, durch Kirchenlieder und Schlachtgesänge bei Cup-Finalen erreicht wird. - J. G. Ballard, Das Angriffsziel. In: Phantastische Aussichten. Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1985  (Phantastische Bibliothek 160)

Mann

 

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