Jahrmarktsbude   »Ein Gläschen Chartreuse? Vom grünen, nicht wahr? Glauben Sie mir, Monsieur, wenn man ein Hotel leitet, wird man Philosoph. Man hört alles, sieht alles, erfährt alles. Da kommt der Punkt, wo man zwischen den krassesten Gegensätzen keinen Unterschied mehr macht. Man wird gleichgültig gegen Gut und Böse, man schert sich nicht mehr um Lüge oder Wahrheit, Tugend oder Laster. Wenn dies Haus sprechen könnte! Wieviel Biedermannsgesichter haben sich hier schon als Freibeuterfratzen entpuppt, wieviel Geradheit als krumm. Kokotten haben sich anständig verhalten, verheiratete Frauen sich dem Meistbietenden verkauft. Es gab alles: auch Schelme, die Schelme blieben, Rechtschaffene, die rechtschaffen lebten, Kokotten, die Kurtisanen und Ehefrauen, die die reinsten Engel wurden. Das ist noch erstaunlicher. Die Welt ist nun mal wie die Glut im Kamin, man kann alles in sie hineinsehen, was man sich nur träumt. Am besten, man träumt so wenig wie möglich, sonst nimmt man seine Träume noch für wahr, und das zahlt sich meist nicht aus. Sehen Sie, das Leben ist wie eine Jahrmarktsbude. Draußen laden muntere Harlekine mit komischen Sprüngen zur Schau, während drinnen ein blutrünstiges Drama über die Bühne geht. Warum wollen Sie da erst reingehen? Um mit dem Waisenkind zu leiden? Um dem Verräter den Tod zu wünschen? Draußen können Sie sich gratis über Purzelbäume amüsieren. Tragödien sind etwas für Schwachköpfe ... Jawohl. Ich komme ins Phrasendreschen... Noch ein Gläschen Chartreuse?«   - Georges Darien, Der Dieb. Nördlingen 1989 (Die Andere Bibliothek 54, zuerst 1897)

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