Jahre, beste  "Geh nach Pittsburgh oder nach St. Louie und frag nach Letty Brown, so hieß ich dort. Frag Männer, die das Geschäft noch vor ein paar Jahren frequentierten. Nichts als Spitzen und Tüll, die erlesensten Weine, die besten Pferde!"

Ich saß da und schaute Tante Letty an, und ich bin sicher, daß ich vergaß, dabei den Mund zuzumachen. Ich verstand ganz gut, was eine Kurtisane war: eine erstklassige, hochformatige Hure. Ich war kein besonderes Licht, aber ich war auch nicht auf den Kopf gefallen. Ich merkte, daß Tante Letty in Stimmung war, Dinge zu erzählen, von denen sie noch nie gesprochen hatte. „Meine besten Jahre - fünf an der Zahl - war ich die Attraktion des Flegel-Bordells in St. Louie. Zig und Emma Flegel führten das beste Haus in St. Louie, und sie führen es heute noch, in der Lucas Avenue. Ja, Lucas Avenue", wiederholte sie. „Ein großes, imposantes Steinhaus, das unter Polizeischutz steht. Richter, Anwälte, Flußkapitäne waren dort regelmäßig Gäste und nahmen sich ein Mädchen, entweder für ein Missionarsgeschäft oder für eine rundbackige Weltreise. Es gab die feinsten Weinsorten, ein Neger spielte Klavier, jeden Sonntag gab es Truthahn, und wir trugen seidene Negliges! Tja, für einen schönen Schmatz oder einen richtigen Kuß von Letty schickten etliche der feinen Kunden ein Parfümfläschchen oder einen chinesischen Kimono. Verdammt, Nellie, ich kann jeden Moment abkratzen, und du bleibst allein zurück. Irgendein dreckiger Bauer wird dich aufs Kreuz legen, und den Rest deines Lebens kannst du über einem Holzfeuer Fleischklöße braten. Ewig schwanger, mit beschissenen, mief enden Kindern, die einem an der Kittelfalte hängen." Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Und dann wiederholte sie: „Zig und Emma Flegel, Zig und Emma Flegel... St. Louie, St. Louie."

Ich ließ sie allein. Ich wußte nicht, wie schwer krank sie war. Etwas später wollte ich ihr etwas Fleischbrühe einflößen, aber sie saß nur in ihrem Schaukelstuhl und erzählte mir von den Flegels, und ihre Haut schimmerte ganz graugrün ... Ihre Hände zitterten und Ihre Schultern zuckten, es erinnerte mich an ein Pferd, das eine lästige Fliege verscheuchen will. Sie hielt etwas in der Hand. Als sie die Finger öffnete, sagte sie; „Das ist für dich. Alles, was mir übrigblieb, keine Ringe, keine Broschen. Das und ein paar alte Fetzen." Es war eine kleine goldene Uhr, so groß wie ein Silberdollar, mit zwei Deckeln und einer Spange daran, damit man sie an der Bluse tragen konnte. Auf einem Deckel waren ein kleiner nackter Cupido und die Buchstaben L. B. eingraviert. „Das gehört dir. Zig Flegel schenkte mir die Uhr, als ich von ihnen wegging, nach Pittsburgh. Da war ein Mann ... aber das ist ja egal. Sie macht sich gut auf einer blauen oder gelben Seidenbluse..."

Ich nehme an, daß Tante Letty dann starb, ganz plötzlich. Ihre Hand lag in meiner, die Uhr tickte, als wenn es ihr Herz wäre... Ich sprang zurück, mit der Uhr in der Hand. Und ich begann zu schreien. Die Tränen saßen mir nie locker, ich habe nur dreimal in meinem Leben wirklich losgeplärrt. Aber sonst bin ich wirklich keine Heulsuse. Ich brüllte also los, und sie saß zusammengesunken in ihrem Schaukelstuhl, der Kopf war ihr zur Seite gefallen, Speichel floß aus einem Winkel des offenen Mundes, der seine wenigen übriggebliebenen Zähne zeigte. Sie war der einzige Mensch gewesen, den ich jemals wirklich geliebt hatte. Ich hatte meine Mutter gern und auch ein Paar meiner Brüder und Schwestern. Aber meine ganze Liebe gehörte diesem kleinen Häufchen Knochen und runzeliger Haut, das langsam kalt wurde. - Nell Kimball, Madame - Meine Mädchen, meine Häuser. Hg. Stephen Longstreet. Frankfurt am Main, Wien und Berlin  1982 (entst. ca. 1917-1932)

 

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