Jagdinstinkt    Ihre Glieder waren so gerundet, daß es schien, man würde, an welcher Stelle man sie auch mit einem scharfen Messer durchschnitte, einen vollkommen kreisrunden Querschnitt erhalten. Taille und Bauch waren so glatt, daß ihr eigener Blick abrutschte und wegglitt und nach Halt suchte. Sie war jedoch nicht ganz und gar wie eine Statue, fand sie, und hob ihre Arme über den Kopf. Sie drehte sich, um einen Blick auf ihren Rücken zu erhaschen; die Rundungen unterhalb der Taille waren vom Druck des Bettes noch sanft gerötet. Sie rief sich einige Geschichten von Nymphen und Göttinnen ins Gedächtnis, sie schienen ihr aber alle so weit weg zu sein, daß ihre Gedanken zu den Dorfmädchen im Bach zurückkehrten. Sie wurden, einige Minuten lang, zu Spielgefährtinnen idealisiert, zu Schwestern sogar, denn sie gehörten ja zu ihr wie die Wiese und der blaue Bach. Und im nächsten Moment überkam sie das Gefühl der Verlassenheit erneut, ein horror vacui wie ein körperlicher Schmerz. Bestimmt, ganz bestimmt hätte irgend jemand jetzt bei ihr sein müssen, ihr anderes Ich, wie das Bild im Spiegel, nur näher, stärker: lebendig. Es war niemand da, die Welt um sie war leer.

Ein jähes, heftiges Jucken unterm Knie riß sie aus ihren Träumereien und weckte in ihr den Jagdinstinkt ihres Geschlechts. Sie feuchtete einen Finger mit der Zunge an, führte ihn behutsam nach unten und klatschte damit auf die Stelle. Sie spürte den winzigen scharfen Körper des Insekts deutlich an der seidigen Haut, preßte den Daumen darauf und hob den kleinen Gefangenen triumphierend zwischen ihren Fingerspitzen hoch. Sie stand ganz still da, als staune sie der Tatsache nach, daß ein Floh das einzige Geschöpf war, das um ihre Weichheit und ihr süßes Blut sein Leben wagte.   - Tania Blixen, Wintergeschichten. Reinbek bei Hamburg 1989

 

Instinkt Jagd

 

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