Irritation    Wenn man nicht weiß, ob man Bibliothekar oder Chemiker werden soll, bitte! Wenn man nicht weiß, ob man schließlich als Chauffeur am Steuer oder als Chef im Fond sitzen wird, bitte! Wenn man nicht weiß, ob es Gott gibt oder nicht gibt, tja. Aber wenn man nicht einmal weiß, wo man das bißchen Spaß zu ergattern hat, ich danke. In diesem Bereich irritiert zu sein, das muß doch sein, als wüßte man nicht, ob man Rechts- oder Linkshänder ist, die Haut ist unschlüssig und kommt zu keinem Wunsch, eine ganz sinnlose Schwerelosigkeit ergreift den Körper, er wird nirgends mehr hingezogen, der Widerstand, nach dem er sich sehnt, ist unbekannt, die Welt ist ohne Einteilung, nichts unterscheidet sich mehr, also gibt es keine Kraft mehr, die Zellen wirtschaften noch aus Gewohnheit weiter, der Körper ist ins Nichts genagelt. Weltaufhebende Indifferenz. Tiefe, weil im Körper beheimatete Einsicht in die leere Mechanik des Sexual-Karussells. Und das wird als Impotenz diffamiert von den grölenden Abonnenten dieses Karussells, die jede Runde aus Mangel an Erinnerungsvermögen für etwas ganz Neues halten und sich deshalb immer wieder ganz kindisch auf die nächste Runde freuen. Ich, zum Beispiel.

Wessen Körper sich aber weigert, wie ein Brunnenesel im Kreise zu gehen und den Zyklus von Füllung und Entleerung als den großen Dreh des Daseins zu feiern, der kommt sich, vergiftet von der frenetischen Geschlechtspropaganda der Umwelt, auch noch minderwertig vor. Dabei ist doch die Weigerung seiner Drüsen, irgendeine Art von Lust zu erzeugen, in wahrhafter Übereinstimmung mit dem Zustand der Welt. Die Weisen haben sich in einer unendlichen Kette von kleinen Selbstmorden bis zu diesem Grad der Lustlosigkeit hinaufgemartert. Wenn es aber einer geschenkt bekommt, muß er sich schämen und ärgern. Hm.   - Martin Walser, Halbzeit. München 1971 (zuerst 1960)

Irritation (2)

- Apollonia Saintclair

Störung

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