Intelligenz, getrübte    Der Herr mit dem pechschwarzen und sorgfältig gestutzten Schnurrbart ist um vier Uhr nachmittags noch immer im Pyjama. Hie und da legt er sich aufs Bett, hie und da schlurft er durch die Wohnung, schließlich läßt er sich in einen bequemen und resignierten Lehnstuhl sinken. Er blättert in einem Buch und sieht erst auf den Titel, nachdem er ein wenig auf einer Seite herumgelesen hat. Es ist immer das falsche Buch. Im Grunde ist er gar nicht krank; er hat kein Fieber; er hat aber beschlossen, daß er das Recht hat, sich wie ein Kranker zu benehmen. Er ist eine anmutige Seele, aber heute hat er sich einer einsamen Tölpelei überlassen. Er ist ein gewandter Redner, aber heute ist er schweigsam; wenn jemand anruft, ist er verstört über seine eigene Stimme, die schrille, leicht hysterische Laute ausstößt. Der Herr im Pyjama könnte unter den Nachwirkungen einer lästigen Betrunkenheit leiden; in Wirklichkeit aber hat er am Abend zuvor nur mäßig getrunken. Trotzdem ist seine Intelligenz, die auch sonst nicht außergewöhnlich ist, heute getrübt; nichts interessiert ihn, und er hat den Eindruck, in die Wohnung eines Fremden geraten zu sein. Vielleicht ist das Wetter schuld, das seit Tagen drückend, feucht und lichtlos ist; oder sein nicht mehr junger Körper brütet irgendeine Krankheit aus, oder eine schon seit Monaten schwelende Krankheit gelangt erst jetzt an die Oberfläche seines Körpers. Er stellt sich diese Fragen mit Gleichgültigkeit. Er ist kein Mensch, der über den Dingen steht, aber heute ist er nicht einmal in der Lage, sich mit Aufmerksamkeit seiner eigenen mutmaßlichen Krankheit zu widmen. Mit angestrengtem Interesse betrachtet er die Ecken eines Tischs, und der Gedanke kommt ihm, daß in einer vernünftigen Gesellschaft die Tische keine Ecken haben dürften - oder sagt man Kanten? Nein, Schränke haben Kanten. Jedenfalls dürfte es auch keine Kanten geben. Die Bücher müßten rund sein: vollgeschriebene Kugeln. Er kichert; dann verspürt er eine gelinde Scham. Er findet sich dumm und möchte sich über sich ärgern, aber auch das gelingt ihm nicht.  - (pill)
 

Intelligenz


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