Insassen   Die Fenster sind von innen durch Eisengitter verschandelt. Der Fußboden ist grau und splittrig. Es stinkt nach Sauerkraut, nach blakendem Docht, nach Wanzen und Ammoniak, und dieser Gestank kann im ersten Augenblick auf Sie so einwirken, als beträten Sie einen Raubtierkäfig.

Im Zimmer befinden sich Betten, die am Fußboden festgeschraubt sind. Auf diesen sitzen und liegen Leute in blauen Krankenhausschlafröcken, die nach altem Brauch Nachtmützen tragen. Das sind die Verrückten.

Ihrer sind im ganzen fünf. Nur einer davon ist von adliger Abkunft, die anderen sind alle Kleinbürger. Der nächste an der Tür ist ein hochgewachsener dürrer Kleinbürger mit fuchsrotem glänzendem Schnurrbart und tränenden Augen; den Kopf aufgestützt, sitzt er da und starrt auf einen Punkt. Tag und Nacht ist er bekümmert, er schüttelt den Kopf, seufzt und hat ein bitteres Lächeln; am Gespräch nimmt er nur selten teil und auf Fragen antwortet er meist überhaupt nicht. Er ißt und trinkt mechanisch, was ihm vorgesetzt wird. Nach dem qualvollen bellenden Husten, der Hagerkeit und den roten Flecken auf den Backen zu schließen, beginnt beiihm Schwindsucht.

Nach diesem folgt ein kleiner, lebhafter, quicklebendiger alter Mann mit einem Spitzbart und schwarzen krausen Haaren wie bei einem Neger. Tagsüber spaziert er im Krankenhauszimrner von Fenster zu Fenster oder er hockt auf seinem Bett, die Beine nach türkischer Art untergeschlagen, und pfeift ununterbrochen wie ein Dompfaff, oder er singt leise vor sich hin und kichert. Kindische Fröhlichkeit und lebhaftes Temperament bekundet er auch nachts, wenn er aufstellt, um zu Gott zu beten, das heißt, wenn er mit den Fäusten an seine Brust schlägt und mit dem Finger in den Türspalten bohrt. Das ist der Jude Moissejka, ein Narr, der vor zwanzig Jahren seüaen Verstand verlor, als seine Mützenwerkstatt in Flammen aufging.

Von allen Insassen des Krankenhauszimmers Nr. 6 genießt einzig er das Vorrecht, das Gebäude zu verlassen und sogar aus dem Krankenhaushof auf die Straße zu gehen. Dies Privileg genießt er schon seit geraumer Zeit, vermutlich als alter Insasse des Krankenhauses und als sanfter ungefährlicher Irrer, gewissermaßen als Stadtnarr, den auf den Straßen zu sehen, umringt von Buben und Hunden, man sich längst gewöhnt hat. Im Krankenkittel, mit komischer Nachtmütze und in Pantoffeln, zuweilen aber auch barfuß und sogar ohne Hosen treibt er sich draußen herum, bleibt an den Pforten und Buden stehen und bettelt um ein Kopekchen. Die einen geben ihm Kwass zu trinken, von anderen erhält er Brot, von den dritten das Kopekchen, so daß er ins Nebengebäude meist satt und reich zurückkehrt. Alles was er heimträgt, nimmt ihm jedoch Nikita fort, der es für sich verbraucht. Und zwar macht der Soldat das grob und böse, er kehrt ihm die Taschen um und ruft Gott zum Zeugen dafür an, daß er den Juden von nun ab nie wieder auf die Straße lassen werde und daß solche Unordnungen ihm das Ärgste auf der Welt seien.

Moissejka ist gern dienstfertig. Er bringt den Kameraden Wasser, er deckt sie zu, wenn sie schlafen, er verspricht einem jeden, ihm von draußen ein Kopekchen mitzubringen und ihm eine neue Nachtmütze machen zu lassen; und er füttert mit dem Löffel seinen Nachbarn zur linken Hand, den Paralytiker. Das tut er nicht etwa aus Mitgefühl oder aus irgendwelchen humanen Überlegungen, sondern er ahmt damit Gromow, seinen Nachbarn rechter Hand, mit unwillkürlichem Gehorsam nach.

Iwan Dmitritsch Gromow, ein Mann von dreiunddreißig Jahren, von adliger Abkunft, vormals Gerichtsvollzieher und Gouvernementssekretär ist am Verfolgungswahn erkrankt. Entweder liegt er auf dem Bett, ganz und gar eingerollt, oder er marschiert von einer Ecke in die andere, als wolle er sich Bewegung machen, sitzen sieht man ihn nur sehr selten. Er ist stets aufgeregt, unruhig und voller Spannung wie infolge einer unklaren unbestimmten Erwartung. Beim leisesten Geräusch im Flur oder wenn draußen gerufen wird, hebt er den Kopf und horcht hin: ob man nicht kommt, ihn zu holen? Ob man nicht gar ihn sucht; Und sein Gesicht zeigt dabei die Miene der äußersten Besorgnis und des Ekels.

Mir gefällt sein breitflächiges Gesicht mit den starken Backenknochen, das ewig blaß und unglücklich ist und das wie in einem Spiegel eine Seele sichtbar macht, von Kämpfen zerquält und von ununterbrochener Angst. Seine Grimassen sind seltsam und krankhaft, die feinen Gesichtszüge aber, die tiefes echtes Leid geprägt hat, sind verständig und intelligent, und in seinen Augen liegt ein warmer und gesunder Schimmer. Der Mann selber gefällt mir auch, er ist höflich und dienstfertig und im Umgang mit allen außer Nikita ungewöhnlich taktvoll. Wenn jemand einen Knopf oder einen Löffel fallen läßt, springt er schnell vorn Bett auf und liebt es auf. Jeden Morgen begrüßt er seine Kameraden mit Gutenmorgen und er wünscht ihnen, wenn er sich schlafen legt, eine ruhige Nacht.

Sein Wahnsinn äußert sich außer in seinem ewig angespannten Zustand und in seinem Grimassenschneiden noch in folgendem: manchmal hüllt er sich abends fest in seinen engen Schlafrock und beginnt, am ganzen Körper zitternd und mit den Zähnen klappernd, schnell aus einer Ecke in die andere und zwischen den Betten hin und her zu wandern. Es sieht aus, als plage ihn heftiges Fieber. Nach der Art und Weise, wie er plötzlich stehenbleibt und die Kameraden anschaut, merkt man, daß er etwas sehr Wichtiges äußern möchte, aber offenbar meint er, daß man ihn nicht anhören oder ihn nicht verstehen wird, und dann schüttelt er ungeduldig den Kopf und marschiert weiter. Indes der Wunsch, sich mitzuteilen, wird bald stärker als alle anderen Erwägungen, und dann gibt er nach und beginnt hitzig und leidenschaftlich zu reden. Seine Rede ist ungeordnet, sie ist fieberhaft, als ob er phantasierte, sie ist abgerissen und nicht immer zu verstehen, dafür aber ist in seinen Worten und seiner Stimme etwas ungewöhnlich Gutes zu hören. Wenn er spricht, können Sie in ihm sowohl den Irren wie auch den Menschen erkennen. Seine irre Rede ist schwer wiederzugeben. Er spricht von der menschlichen Gemeinheit, von Vergewaltigung, die alle Wahrheit mit Füßen tritt, er spricht von dem schönen Leben, das es nach einiger Zeit auf Erden geben wird, doch er spricht auch von den Fenstergittern, die ihn in jedem Augenblick an die Stumpfheit und Grausamkeit der Vergewaltiger denken lassen. Aus all dein ergibt sich ein ungeordnetes und ungereimtes Potpourri aus alten, noch längst nicht verklungenen Liedern.   - Anton Tschechow, Krankenhauszimmer Nr. 6.  Nach (tsch)

Insasse (2) Ich nahm eine Abkürzung zum Ausgang, die mich keine zwanzig Meter an dem Gebäude vorbeiführte, das neben dem stand, in dem Pound untergebracht war. In regelmäßigen Abständen ausgestoßene Schreie, die von irgendwo aus diesem Gebäude drangen, ließen mich aufhorchen, und als ich dann um die Ecke bog, erblickte ich eine Gestalt, die meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Es ist erstaunlich, wie offen und scheinbar unbewacht das ganze Anstaltsgelände sich dem Besucher darbietet: scheinbar unbeobachtet und auf jeden Fall ungehindert geht man umher, geht man ein und aus, doch als ich aus dem Schlamm, durch den ich behutsam watete, den Blick nach oben wandte, sah ich einen Mann: nackt, voll erigiert, reglos, die Arme ausgestreckt, als klettere er eine Wand hoch, klebte er an einem der hohen Fenster des alten Gebäudes wie eine Schnecke an der Innenseite eines gläsernen Aquariums. Sein Bauch drückte sich an das von dem miesen Wetter beschlagene und bespritzte Glas. Ich blieb nicht stehen, sah aber immer wieder zu ihm hin und blickte mich um, ob irgendwelche Frauen in der Nähe waren. Es war niemand auf dem Gelände außer mir selbst. Die Genitalien des Mannes waren hart an das kalte (es muß kalt gewesen sein) Glas gepreßt und schienen dort in dieser verzweifelten Pose festzukleben. Wann würde jemand kommen und ihn da runterholen? Immerhin war es Glas, Fensterglas, auch wenn sich dahinter ein Gitter befand. Ohne Hektik, schweigend drückte sich die weiße Haut an das Glas wie der weiße Bauch einer Schnecke.  - (wcwa)
 
 

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