ndividualität
Unser Erkenntnißvermögen ist ganz nach außen gerichtet, Dem entsprechend,
daß es das Produkt einer zum Zwecke der bloßen Selbsterhaltung, also des Nahrungssuchens
und Beutefangens entstandenen Gehirnfunktion ist. Daher weiß Jeder von sich
nur als von diesem Individuo, wie es in der äußeren Anschauung sich darstellt.
Könnte er hingegen zum Bewußtseyn bringen was er noch überdies und außerdem
ist; so würde er seine Individualität willig fahren lassen, die Tenacität [Zähigkeit]
seiner Anhänglichkeit an dieselbe belächeln und sagen: »Was kümmert der Verlust
dieser Individualität mich, der ich die Möglichkeit zahlloser Individualitäten
in mir trage?« Er würde einsehn, daß, wenn ihm gleich eine Fortdauer seiner
Individualität nicht bevorsteht, es doch ganz so gut ist, als hätte er eine
solche; weil er einen vollkommenen Ersatz für sie in sich trägt. - Ueberdies
ließe sich nun aber noch in Erwägung bringen, daß die Individualität der meisten
Menschen eine so elende und nichtswürdige ist, daß sie wahrlich nichts daran
verlieren, und daß was an ihnen noch einigen Werth haben mag, das allgemein
Menschliche ist: diesem aber kann man die Unvergänglichkeit versprechen. Ja,
schon die starre Unveränderlichkeit und wesentliche Beschränkung jeder Individualität,
als solcher, müßte, bei einer endlosen Fortdauer derselben, endlich, durch ihre
Monotonie, einen so großen Ueberdruß erzeugen, daß man, um ihrer nur entledigt
zu seyn, lieber zu Nichts würde. Unsterblichkeit der Individualität verlangen,
heißt eigentlich einen Irrthum ins Unendliche perpetuiren [verewigen] wollen.
Denn im Grunde ist doch jede Individualität nur ein specieller Irrthum, Fehltritt,
etwas das besser nicht wäre, ja, wovon uns zurückzubringen der eigentliche Zweck
des Lebens ist. Dies findet seine Bestätigung auch darin, daß die allermeisten,
ja, eigentlich alle Menschen so beschaffen sind, daß sie nicht glücklich seyn
könnten, in welche Welt auch immer sie versetzt werden möchten.
- (
wv
)
Individualität (2) Individualitäten! Orgasmus zu seiner Stunde, später Weihwasser, auch Teilnahme an Festen. Berufsgruppen! Besteigen nachmittags einen Zug, Geschäftsreise, Geschmack von Rauch, etwas Kühle im Coup£, Landschaft streicht vorüber, Dämmerung - Tage und Existenzen! Parallele: schuldlos geschiedene Blondine, Mann Syndikus, jetzt Broterwerb, ausgenossene Gattin.
Gespenster! Leere! Gliedloses Gewoge! Cäsarisch am Schlips: rotkariert, nicht
Punkte; Eigenblust im Römer: Obstsaft, keinen Federweißeo! Reize, Gewohnheiten,
Verstimmungen der Höchstfall von Besonderheiten! Frucht-werdendes, anlagemäßiges
Müssen nie. - Gottfried Benn, Weinhaus
Wolf. In: G. B.,
Prosa und Szenen. Ges. Werke Bd. 2. Wiesbaden 1962
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