ypochonder
Verdrossen machte er sich auf den Weg. Es war wohl doch keine besonders
glückliche Idee, sich von einer mittleren Krankheit Dauererleichterungen für
die Zukunft zu versprechen, wenn es so viele Ärzte gab, die die Patienten nicht
in Ruhe ließen.
- (
absch
)
Hypochonder (2) »splitterstens«
statt spätestens, oder: Spiegel aller Gesundheiten ich bin krank ich
habe Leibschmerzen ich kriege 1 Blinddarmentzündung, ich versuche durch Anheben
des rechten Beins dies zu überprüfen, Herr Doktor bedauert das sehr, intelligentes
Hauskrankenbuch, ich habe 1 Halsentzündung Prüfung des Dauerregens, mein linker
Fuß fühlt 1 Verkrüppelung, 2 kl.Füße die vorwärts gehen wollen, vermutlich
Zipperlein Fußgicht, muß 2 x nachfragen, was Edith zu mir gesagt hat, - hat
mein Gehör gelitten?, 1 Lichtchen der Augen, 1 Licht Endchen auf Stacheln,
ich habe auf dem Parkettboden die Azoren gesehen, aber nur 1 Augenblick,
meine Augen sind m 1 schlechten Zustand, dies 1 auf frei flottierender
Phantasie beruhende Annahme, nichts mehr in der Objektwelt so wirklich DURCHSICHTIG,
die Nahbrille für den Kleinstdruck verwende ich jetzt auch für den Normaldruck,
meine rechte Hüfte hinkt beim Erklimmen von hohen Treppen, Herzsprung und Greinen,
Greinen und Wolfsgeheul, Versteinerungen beim Sprechenmüssen, Ansätze von Stotterkrankheit,
Elektrisierung auf Bergen, mein Rücken zum Buckel gekrümmt, es war Zechyr, Othmar,
mit diesem (gravitätisch) vor sich hergetragenen Straußenbuckel, mit welchem
ich mich identifizierte, etc., nämlich das THIERCHEN - Friederike Mayröcker, Magische Blätter VI.
Frankfurt am Main 2007 (es 2488)
Hypochonder (3) Der Herr
mit dem pechschwarzen und sorgfältig gestutzten Schnurrbart
ist um vier Uhr nachmittags noch immer im Pyjama. Hie und da legt er sich aufs
Bett, hie und da schlurft er durch die Wohnung, schließlich
läßt er sich in einen bequemen und resignierten Lehnstuhl sinken. Er blättert
in einem Buch und sieht erst auf den Titel, nachdem er ein wenig auf einer Seite
herumgelesen hat. Es ist immer das falsche Buch. Im Grunde ist er gar nicht
krank; er hat kein Fieber; er hat aber beschlossen, daß er das Recht hat, sich
wie ein Kranker zu benehmen. Er ist eine anmutige Seele,
aber heute hat er sich einer einsamen Tölpelei überlassen. Er ist ein gewandter
Redner, aber heute ist er schweigsam; wenn jemand anruft, ist er verstört über
seine eigene Stimme, die schrille, leicht hysterische Laute ausstößt. Der Herr
im Pyjama könnte unter den Nachwirkungen einer lästigen Betrunkenheit leiden;
in Wirklichkeit aber hat er am Abend zuvor nur mäßig getrunken. Trotzdem ist
seine Intelligenz, die auch sonst nicht außergewöhnlich ist, heute getrübt;
nichts interessiert ihn, und er hat den Eindruck, in die Wohnung eines Fremden
geraten zu sein. Vielleicht ist das Wetter schuld, das seit Tagen drückend,
feucht und lichtlos ist; oder sein nicht mehr junger Körper brütet irgendeine
Krankheit aus, oder eine schon seit Monaten schwelende Krankheit gelangt erst
jetzt an die Oberfläche seines Körpers. Er stellt sich diese Fragen mit Gleichgültigkeit.
Er ist kein Mensch, der über den Dingen steht, aber heute ist er nicht einmal
in der Lage, sich mit Aufmerksamkeit seiner eigenen mutmaßlichen Krankheit zu
widmen. Mit angestrengtem Interesse betrachtet er die Ecken eines Tischs, und
der Gedanke kommt ihm, daß in einer vernünftigen Gesellschaft die Tische keine
Ecken haben dürften - oder sagt man Kanten? Nein, Schränke haben Kanten. Jedenfalls
dürfte es auch keine Kanten geben. Die Bücher müßten rund sein: vollgeschriebene
Kugeln. Er kichert; dann verspürt er eine gelinde Scham. Er findet sich dumm
und möchte sich über sich ärgern, aber auch das gelingt ihm nicht. - (
pill
)
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