unger  Gott und die Wahrheit ruf ich zum Zeugen an, daß ich in Moskau mit eigenen Augen Menschen gesehen habe, welche, auf der Straße liegend, wie das Vieh Gras ausrauften und sich damit nährten. Bei den Toten fand man Heu im Munde. Pferdefleisch war ein Leckerbissen; man aß Hunde, Katzen, Luder und alle Arten von Unreinigkeiten; Menschen wurden ärger als wilde Tiere, sie verließen Kinder und Weiber, um den letzten Bissen nicht mit ihnen zu teilen. Sie raubten und mordeten nicht nur für einen Bissen Brot, sondern es fraß auch einer den anderen auf. Reisende fürchteten die Wirte, und die Wirtshäuser wurden zu Mörderhöhlen; man erdrosselte, man erschlug die Schlafenden zu gräßlicher Speise! Menschenfleisch ward in Pasteten auf dem Markt verkauft! Mütter verschlangen die Leichname ihrer Säuglinge! Die Verbrecher wurden hingerichtet, verbrannt, ins Wasser geworfen, aber die Verbrechen verminderten sich nicht. Und zu derselben Zeit häuften Bösewichte Getreide auf, in der Hoffnung, es noch teurer zu verkaufen. - Karamsin, nach: Karl Corino (Hg.): Gefälscht! Betrug in Literatur, Kunst, Musik, Wissenschaft und Politik. Frankfurt am Main 1990

Hunger (2) So weit ich in meinen Erinnerungen zurückgehe, ich finde dort einen nie gestillten Hunger danach, alles kennenzulernen, was lebt und was nicht lebt - aber lebt nicht alles, wie ich versucht wäre zu glauben? Ich wäre gerne nicht nur ich selbst gewesen, so jung und unbedeutend, sondern auch alle Menschen, die der Erde und die des Meeres, der Schmied, der Gärtner, der Maurer und die, die sich an die Sprossen der sozialen Leiter, von der so oft die Rede ist, klammern, vom kleinen Lehrling, der ich für meinen Marquis war, angefangen, vom höchsten und vom niedrigsten, bis hin zu der Prostituierten der heißen Viertel, die ich mit Widerwillen so nenne, da ich die abfälligen Bezeichnungen verabscheue, und bis hin zum Clochard an den Quais der Seine oder in den Seehäfen. - Georges Simenon, Intime Memoiren. Zürich 1984, zuerst 1981

Hunger (3) Diner bei Charles Edmond mit Herzen. . . . Herzen erzählt von Bakunin, von den elf Monaten, die er, an eine Mauer angekettet, im Kerker verbracht hatte, von seiner Flucht in Sibirien über den Amur, von seiner Rückkehr über Kalifornien und seiner Ankunft in London, wo er Herzen schweißtriefend einen feuchten Kuß gegeben habe. Seine ersten Worte seien gewesen: »Gibt es hier Austern?« - EDMOND UND JULES DE GONCOURT, in: Unterhaltungen mit Bakunin. Hg. Arthur Lehning. Nördlingen 1987

Hunger (4)

 „Fern an den eisigen Küsten von Scythien liegt eine Stelle,
fruchtlos, öde der Boden, kein Korn, kein Baum auf der Erde.
Lähmende Kälte ist dort daheim, der Schrecken, das Graun und
Er, der Hunger, der hohle. Er soll in des Heiligtumschänders
frevelhaftes Geweide sich senken. Ihn soll keine Fülle
zwingen, im Wettstreit soll er auch meinen Kräften obsiegen.
Und, daß die Weite des Wegs dich nicht schrecke, nimm meinen Wagen,
nimm sie auf hoher Bahn mit den Zügeln zu lenken, die Schlangen."

Gab sie der Nymphe, und die, durch die Lüfte geführt auf der Göttin
Wagen, gelangte nach Scythien so. Auf dem Haupt eines wilden
Berges — Caucasus wird er genannt — gab frei sie der Schlangen
Rücken und sah nun dort auf steinigem Feld den gesuchten
Hunger mit Nägeln und Zähnen die dürftigen Krauter sich rupfen.
Struppig sein Haar und hohl seine Augen, Blässe im Antlitz,
fleischlos die Lippen und grau, voll rauhen Schorfes der Rachen,
hart seine Haut, man konnte durch sie die Geweide erkennen.
Dürr über hohlen Lenden heraus ihm starrten die Rippen,
statt des Leibes — Raum für den Leib. Die Brust schien zu hangen,
so, als würde sie nur von den Wirbeln des Rückens gehalten.
Größer macht die Gelenke die Magerkeit, quellend der Kniee
Scheiben, unmäßig treten hervor die kantigen Knöchel.
Als sie von ferne ihn sah — sie wagte nicht näher zu treten —
rief sie der Göttin Befehle ihm zu. Und so kurz sie verweilt, so
weit sie entfernt von ihm stand, und war sie auch kaum erst gekommen,
glaubte sie dennoch den Hunger zu spüren. Sie ließ ihre Schlangen
wenden und lenkte sie hoch ihre Bahn nach Thessalien wieder.

Was ihm Ceres befohlen, vollführte der Hunger, obgleich er
stets ihrem Wirken feind. Durch die Luft von den Winden getragen,
naht er sich schon dem befohlenen Haus. In des Heiligtumschänders
Kammer tritt er sogleich; den in tiefem Schlummer Gelösten —
Nachtzeit war es — umschlingt mit beiden Armen er enge,
haucht dem Manne sich ein, weht Brust ihm, Rachen und Antlitz
an und flößt seine Leere ihm tief in das hohle Geäder.
Dann. da sein Auftrag erfüllt, verläßt er den fruchtbaren Erdkreis,
kehrt in das Haus des Mangels zurück auf die heimischen Fluren.

Friedlicher Schlummer umfächelt bisher Erysichthon mit sanftem
Fittich. Aber schon im Traum verlangt er nach Nahrung,
regt seine leeren Kiefer, ermüdet den Zahn an den Zähnen,
quält mit nichtiger Speise umsonst die betrogene Kehle,
schlingt an der Mahlzeit statt die flüchtigen Lüfte hinunter.
Aber als dann der Schlummer verscheucht, da raste die Eßgier,
herrschte im gierigen Schlund und den unermeßnen Geweiden.
Ohne Verzug verlangt er, was Meer, was Erde, was Luftreich
liefern und klagt an gedecktem Tisch, ihn quäle der Hunger.
Speisend fragt er nach Speise, und was einer Stadt, einem
ganzen Volk hätte können genügen, es reicht nicht aus für den Einen.
Ja, je mehr in den Bauch er versenkt, desto mehr nur begehrt er,
und, wie das Meer die Ströme der ganzen Erde empfängt und
nie sich des Wassers ersättigt, die fernsten Flüsse noch austrinkt,
und, wie das raffende Feuer niemals eine Speise zurückweist,
nicht zu zählende Scheite verbrennt, und je mehr du ihm bietest,
desto mehr nur verlangt und gefräßiger wird in der Fülle,
so empfängt und heischt zugleich Erysichthons, des Frevlers,
Schlund ein jedes Mahl. Ihm wird ein jegliches Essen
Grund zu essen, und stets wird leer von Speisen die Tafel.

Hungernd hatte er schon in Bauches Abgrund des Vaters
Reichtum schwinden gemacht. Doch nimmer schwindend, der Hunger
blieb, der grausige, doch; in dem unersättlichen Schlunde
brannte es weiter. Als endlich versenkt im Geweid sein Vermögen,
blieb ihm die Tochter allein, die solchen Vaters nicht würdig.
Arm nun, verkauft er auch die. Sie verschmäht einen Herren in edlem
Stolze und ruft, ihre Hände zum nahen Meere erhebend:

„Du entreiß mich dem Herrn, der du einst meines Jungfrauentumes
Blume im Raube gewannst!" — Neptun war's, der sie gewonnen. —
Dieser erhörte ihr Flehn. Noch eben sah sie der Herr, der
hinter ihr ging, da erhielt sie ein anderes Aussehn, ein männlich
Antlitz, dazu die Tracht, die Fischefangenden eigen.
Blickend auf sie spricht da der Herr: „Der mit wenigem Fleisch du
hehlst das hangende Erz, du Meister der angelnden Rute,
so sei dir freundlich das Meer und so dir der Fisch in den Wellen
arglos und fühle erst dann, wenn er fest sich gebissen, den Haken:
Sie, die eben noch hier in schlechtem Kleid mit verwirrten
Haaren am Ufer stand — ich sah sie stehn an dem Ufer —
sag, wo ist sie? Die Spuren, sie führen von hier doch nicht weiter!"

Da erkannte sie wohl, daß die Gabe des Gottes ihr fromme;
froh, nach sich selbst gefragt sich zu sehn, gab dies sie zur Antwort:
„Wer du auch seist, verzeih! Doch habe ich hier von dem Wasser
keinen Blick noch verwandt, voll Eifer vertieft in die Arbeit.
Und, daß du weniger zweifelst: Der Gott des Meeres,
er möge so unterstützen mein Werk, wie niemand seit langem an diesem
Strand — außer mir allein — und gewiß keine Frau ist gestanden."

Glauben schenkt ihr der Herr, kehrt um und stapfte betrogen
fort durch den Sand — und sie erhielt ihr eigenes Aussehn.

Doch als der Vater erkannt, daß der Leib seiner Tochter verwandlungs-
fähig geworden, verkauft er sie oft an Herren: als Stute
einmal und dann als Rind, als Hirsch, als Vogel vergeben,
schaffte betrüglich sie so dem gierenden Vater die Nahrung.
Aber, als allen Stoff die Gewalt seines Übels verzehrt und
doch nur neue Nahrung der schrecklichen Krankheit gegeben,
fing er mit Bissen an zu zerfleischen die eigenen Glieder,
und der Unselige nährt seinen Leib, indem er ihn aufzehrt.

- (ov)

Hunger (5) Der Kommissar bemerkte eine  höchst merkwürdige Eigenschaft des traurigen Detektivs: Dexter, der so mager war, daß ihm die Sachen um die Glieder schlotterten, hatte einen Magen von einem geradezu märchenhaften Aufnahmevermögen.

Er hatte sich kaum an den Tisch gesetzt, als er mit den vor Gier fiebernden Augen eines Hungernden auf die verschiedenen Platten stierte und kaum hörbar stammelte:

»Gestatten Sie?«

Diese Frage galt nicht etwa einem belegten Brot. Sie galt der ganzen Schüssel. Und während er ihren Inhalt hinunterschlang, blickte er ängstlich um sich, als fürchte er, beim Essen gestört zu werden.

Er aß, ohne zu trinken. Ein Riesenbissen nach dem anderen verschwand in seinem enorm dehnbaren Mund, mit einer Geschwindigkeit, daß man jeden Augenblick einen Erstickungsanfall befürchten mußte.

»Ich habe etwas gefunden«, stieß er mit vollem Munde hervor.

Und mit der einen Hand, die er nicht zum Essen brauchte, kramte er in seiner Manteltasche. Dann legte er ein zusammengefaltetes Blatt Papier auf den Tisch. Während der Kommissar es in die Hand nahm, fragte der Detektiv:

»Darf ich mir etwas Warmes bestellen? Es ist hier nicht teuer.«

Das Papier war ein Prospekt, wie ihn die Artisten früher in der Pause verkauften. Kein Bild auf Glanzkarton, wie die größeren Nummern es zu Reklamezwecken anboten, sondern ein stärkeres Blatt, etwas verblaßt. Die Worte darauf lauteten:

»J & J, die berühmten Musikhumoristen, die die Ehre hatten, vor allen Souveränen Europas und vor dem Schah von Persien aufzutreten.«

»Bitte seien Sie vorsichtig damit«, sagte der Clown, während er begann, Spiegeleier mit Speck zu essen. »Man hat es mir nicht geschenkt, nur geliehen.«

Die Idee, solch ein Stück Papier zu leihen, das jeder weggeworfen hätte, war allein schon komisch.

»Es gehört einem Freund von mir, der früher im Zirkus den komischen August machte. Das ist übrigens viel schwieriger, als man glaubt. Er hat es vierzig Jahre lang getan, und jetzt ist er an seinen Stuhl gefesselt. Er ist sehr alt. Ich habe ihn gestern abend besucht. Er schläft fast nie.«

Er sprach noch immer mit vollem Mund und schielte nach den Würstchen, die einem Herrn am Nebentisch serviert wurden. Sie reizten anscheinend seinen noch immer regen Appetit ebenso wie riesige Stücke einer glasierten Cremetorte, bei deren Anblick Maigret übel wurde.  - Georges Simenon, Maigret in New York. München 1974 (Heyne Simenon-Kriminalromane 12, zuerst 1946)

Hunger (6)  Ein normales Wesen ißt, ruht sich dann eine gewisse Zeit aus, ißt dann wieder, ruht sich dann wieder aus, ißt dann wieder, ruht sich dann wieder aus, ißt dann wieder, ruht sich dann wieder aus, ißt dann wieder, ruht sich dann wieder aus, ißt dann wieder, ruht sich dann wieder aus, und auf diese Weise löst es, bald essend, bald ruhend, das schwierige Problem des Hungers und, ich glaube hinzufügen zu dürfen, des Durstes, auf die beste Weise, die seine Fähigkeiten und sein Vermögen ihm erlauben. Möge er ein schlechter Esser, ein mäßiger Esser, ein großer Esser, ein Vegetarier, Naturmensch, Kannibale oder Koprophile sein, möge er sich auf die Mahlzeit freuen oder sie nachher bereuen oder beides, möge er gut ausscheiden oder schlecht ausscheiden, möge er rülpsen, kotzen, furzen oder sich infolge einer schlecht zugemessenen Diät, eines angeborenen Leidens oder einer Verwöhnung im frühesten Kindesalter auf andere Weisen nicht zusammenreißen können oder wollen, möge er, Jane, sagte ich, einer oder mehrere oder alle oder mehr als alle von ihnen, oder aber möge er andererseits keiner von ihnen sein, sondern etwas ganz anderes, wie es der Fall wäre, wenn er beispielsweise sich auf einen Hungerstreik einließe oder sich in einem katatonischen Stupor befände oder aus gewesen, seinen ärztlichen Beratern wohlbekannten Gründen genötigt wäre, sich wegen seiner Ernährung dem Klistier zuzuwenden, die Tatsache steht fest und kann kaum widerlegt werden, daß er fortdauert mittels dessen, was wir Mahlzeiten nennen, ob sie nun freiwillig oder unfreiwillig eingenommen werden, mit Vergnügen oder mit Schmerzen, mit oder ohne Erfolg, durch den Mund, die Nase, die Poren, durch den Speiseschlauch oder durch den Hintern von unten nach oben mit Hilfe einer Spritze, das alles ist nicht wichtig, und daß zwischen diesen Nährprozessen, ohne die das Leben, wie es allgemein aufgefaßt wird, kaum fortdauern könnte, Perioden der Ruhe oder Entspannung ohne jede Nahrung eintreten, es sei denn eventuell von Zeit zu Zeit bei Gelegenheit ein Gläschen, eine Erfrischung oder ein Häppchen, die, wenn auch nicht unerläßlich, nichtsdestoweniger willkommen sind, und zwar aufgrund einer unvorhergesehenen Beschleunigung des Stoffwechsels infolge unvorhersehbarer Umstände wie zum Beispiel: eine verlorene Rennwette, die Geburt eines Kindes, die Bezahlung einer Schuld, die Eintreibung eines Lohns, die Stimme des Gewissens oder jede andere Erschütterung des Sympathikus, welche die Ursache eines plötzlichen Ergusses von Chymus oder Chylus oder beidem über die halbverdaute, langsam aber sicher erdwärts strebende Masse aus, zum Beispiel, Sherry, Suppe, Bier, Fisch, Stout, Fleisch, Bier, Gemüse, Pudding, Obst, Käse, Stout, Sardellen, Bier, Kaffee und Benediktiner ist, die leichten Herzens vor wenigen Stunden erst höchstwahrscheinlich zu den Akkorden eines Klaviers und eines Cellos hinuntergeschlungen wurden. Mary dagegen aß den ganzen Tag. - (wat)

Hunger (7)   Ein hungriges Huhn traf auf der Wiese eine große Natter. Auch die Natter war hungrig. Die beiden schauten sich an, dann begann das Huhn, nach der Natter zu hacken, um sie aufzufressen. Diese sperrte das Maul auf und versuchte, den Kopf des Huhns zu verschlingen. Beide starben durch Ersticken.   - (ma)

Hunger (8)  Als die kleine Maus, die in der Mäusewelt geliebt wie keine andere gewesen war, in einer Nacht unter das Falleisen kam und mit einem Hochschrei ihr Leben hingab für den Anblick des Specks, wurden alle Mäuse der Umgebung in ihren Löchern von einem Zittern und Schütteln befallen, mit unbeherrscht zwinkernden Augen blickten sie einander der Reihe nach an, während ihre Schwänze in sinnlosem Fleiß den Boden scheuerten. Dann kamen sie zögernd, einer den andern stoßend, hervor, alle zog es zu dem Todesort. Dort lag sie, die kleine liebe Maus, das Eisen im Genick, die rosa Beinchen eingedrückt, erstarrt den schwachen Leib, dem ein wenig Speck so sehr zu gönnen gewesen wäre. Die Eltern standen daneben und beäugten die Reste ihres Kindes. - (hochz)

Hunger (9)  Die Dichter, bei denen Masson mich einführte, interessierten mich mehr als die Maler, denen ich in Paris begegnet war. Ich wurde von den neuen Ideen davongetragen, die sie brachten, und noch mehr von den Dichtungen, über die sie sprachen. Ich verschlang sie nächtelang - Dichtungen vor allem in der Tradition von Jarrys ‹Surmâle›. Als Ergebnis dieser Lektüre begann ich mich schrittweise von dem Realismus zu entfernen, wie ich ihm bis zur ‹Ferme› gefolgt war, bis ich seit 1925 fast ausschließlich nach Halluzinationen malte. In dieser Zeit lebte ich von ein paar getrockneten Feigen am Tag. Ich war zu stolz, um meine Kollegen um Hilfe zu bitten. Hunger war eine ergiebige Quelle für Halluzinationen. Lange vermochte ich dazusitzen und schaute auf die leeren Wände meines Ateliers und versuchte, diese Gesichte auf Papier oder Leinwand zu bannen. - Joan Miró, nach: Wieland Schmied, Zweihundert Jahre phantastische Malerei. München 1980

Hunger (10)

- Alfred Kubin

Hunger (11)  Ich kralle die nackte Hand, deren Rinnen und Rillen mit nackter, feuchter, brauner Erde vollgeschwemmt sind, in die Blumenkästen der Vorgärten und stopfe mir eine Hand voll fetter Blumentopferde in den Speichel gefüllten Mund, ich greife nach jeder toten Fliege, nach jedem nachtblinden Wurm, der seinen farblosen Leib durch den Kot der Pferde, Hunde und Katzen windet, um sie mit Lippen, die vor Lust rauh sind und mit Zähnen, die unter dem Giftpilz meiner irregeleiteten Sinne langsam dahinfaulen, hinunterzuschlingen.  - Peter O. Chotjewitz, Der Ghoul von der Via del'Oca. In: (schrec)

Hunger (12)  Seit heute früh schon stopfe ich mich voll. Hab bei Bolle die hellblauen Milchmarken eingelöst, die Gerd mir zu Weihnachten geschickt hat. Es war höchste Zeit. Die Verkäuferin schöpfte schon aus schräg gehaltener Kanne und sagte, nun komme keine Milch mehr nach Berlin. Das heißt Kindertod.

Gleich auf der Straße trank ich ein paar Schluck ab. Füllte mir daheim den Magen mit Griesbrei und schickte einen Brotkanten nach. Theoretisch bin ich so satt wie lange nicht. Praktisch quält mich tierischer Hunger. Vom Essen bin ich erst richtig hungrig geworden. Bestimmt gibt es dafür eine wissenschaftliche Erklärung. Etwa, daß Speise die Magensekretion anregt und die Säfte verdauungslustig macht. Und wenn diese dann richtig in Schwung kommen, ist der kleine Vorrat schon wegverdaut. Dann grollen die Säfte.  - Anonyma, Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Berlin  2005 (zuerst 1954)

Hunger (13)   Warum sie sich im Namen aller am Hungertuch nagenden Teufel nicht an uns hielten - sie waren dreißig gegen fünf - und es sich wenigstens einmal tüchtig schmecken ließen, wundert mich heute noch, wenn ich darüber nachdenke. Sie waren große, kräftige Männer, denen es nicht eigentlich gegeben war, die Folgen ihres Tuns in Betracht zu ziehen — Männer voll Tapferkeit und Stärke, auch jetzt noch, da ihre Haut stumpf geworden und ihre Muskeln nicht mehr hart waren. Ich erkannte, daß hier etwas Hemmendes im Spiel war, eines jener menschlichen Geheimnisse, die aller Wahrscheinlichkeitsrechnung spotten. Ich betrachtete sie mit wachsender Anteilnahme - nicht etwa weil mir zu Bewußtsein gekommen wäre, ich könnte binnen kurzem von ihnen verspeist werden, obwohl ich gestehen muß, daß ich gerade damals gewahr wurde (unter einem völlig neuen Aspekt), wie ungesund die Pilger wirkten, und daß ich hoffte, ja, aufrichtig hoffte, mein Aussehen möchte nicht so — wie soll ich es nennen? - so — unappetitlich sein: eine Spur phantastischer Eitelkeit, die gut zu dem traumhaften Gefühl paßte, das damals meine Tage durchwaltete. Vielleicht hatte ich auch ein wenig Fie,ber. Man kann nicht beständig mit dem Finger am Puls leben. Ich hatte oft >ein bißchen Fieber< oder einen Anflug von sonst etwas -die spielerischen Prankenhiebe der Wildnis, das einleitende Geplänkel vor dem ernsteren Überfall, der dann auch zu gegebener Zeit erfolgte. Ja, ich betrachtete sie, wie man ein jedes menschliche Wesen betrachtet, neugierig, was ihre Impulse, Fähigkeiten, Schwächen sein möchten, wenn sie auf die Probe eines unerbittlichen physischen Bedürfnisses gestellt würden. Hemmung! Was konnte das für eine Hemmung sein? War es Aberglaube, Abscheu, Geduld, Furcht - oder eine Art Primitiver Ehre? Keine Furcht kann sich gegen den Hunger behaupten, keine Geduld ihn überdauern, Abscheu gibt es einfach nicht, wo Hunger ist; und was den Aberglauben, den Glauben und die sogenannten Grundsätze anlangt, so sind sie weniger als Spreu im Wind. Wißt ihr nicht um die Teuflischkeit anhaltenden Hungerleidens, um ihre zermürbende Folter, ihr düsteres und brütendes Ungestüm? Nun, ich habe sie kennengelernt. Sie raubt einem Mann all seine eingeborene Willenskraft, sich dem Hunger anständig zu widersetzen. Es ist wirklich einfacher, Verarmung, Schande und die Verdammnis der eigenen Seele zu ertragen - als anhaltenden Hunger. Traurig, aber wahr. Und diese Burschen hatten obendrein keinen erdenklichen Grund zu irgendwelchen Skrupeln. Hemmung! Ich hätte ebensogut von einer Hyäne Hemmungen erwarten können, die zwischen den Leichen eines Schlachtfeldes umherstöbert. Doch hier stand ich vor einer Tatsache - der Tatsache, die so verwirrend anzusehen war wie der Schaum auf den Tiefen des Meeres, wie das Gekräusel eines unauslotbaren Rätsels, eines Geheimnisses, größer noch — wenn ich es recht bedenke — als der merkwürdige, unerklärliche Klang verzweifelter Trauer bei jenem wilden Tumult, der auf dem Flußufer hinter der undurchdringlichen Weiße des Nebels an uns vorübergefegt war. - Joseph Conrad, Herz der Finsternis. Frankfurt am Main 1968

Hunger (14) »Aber wir haben doch so viel gemeinsam durchgestanden!«

»Wann?«

»Seit ich euch in dem Brunnenschacht gefunden habe.«

»Das mag ja stimmen, aber ich glaub nicht dran.«

»Und ich glaub auch nicht dran.«

»Ich aber bin es gewiß.«

»Sag das nicht, niemand ist niemals gewiß. Hast du nicht gesehen? Auch deine Frau ist eine andere, und die aus deinem Dorfe sind auch wieder andere.« »Warum legen nicht auch wir uns einen anderen Namen zu und fangen noch einmal von vorne an?« »Ja, geben wir uns einen anderen Namen.«

»Da mache ich nicht mit, ich will nicht noch einmal von vorne anfangen

»Warum?«

»Weil ich Hunger habe.«

»Eigentlich brauchte man keine Angst vor dem Hunger zu haben, es genügt doch zu essen.«

»Ich habe sagen hören, der Hunger komme beim Essen.«

»Dies widerfährt nur Königen, Päpsten und Kaisern.«

»Dann gehen wir doch essen.«

»Wo?«

Millemosche antwortet nicht einmal, er geht entschlossen auf eine Stelle auf der anderen Seite des Flusses zu, die beiden anderen folgen ihm und stolpern über die weißen Steine, die auf der Erde verstreut herumliegen, das heißt über die Knochen der Toten.  - Luigi Malerba, Tonino Guerra: Von Dreien, die auszogen, sich den Bauch zu füllen. Berlin 1969

Hunger (15) Bösartige männer, die mit geschliffenen säbeln und gezogenen hirschfängern durch die engen gedärme ziehen, eiserne hüte tragen sie auch, sie haben schuhe an, kratzige wolfsfelle, gesträubte schnurrbärte, schweinshauer, scharfen atem, sand an den händen, ihre pergamentenen marschbefehle knirschen wie zerbrechendes marienglas, bunte reflexe ihr blick, ihre schatten wie verdorbener essig, die stimmen wie räder auf gläsernen landstraßen, fingernägel aus frischgegossenem zinn, über ihren stachelhüten raubvögel, die knirschend die luft scheuern, grus gegen grus und nicht von der feinsten sorte dieser, ihre rülpser vom klang brechender ochsenherzen, graugekantet ihre inter-jektionen, jeder schritt ein hufschlag gegen den magen des horchers, ihre haut die fleischfarbene dachpappe des hungers unter einem regen aus saurer milch und faulem menschenblut...  - (hca)

Hunger (16)

La rueda del hambriento

Por entre mis propios dientes salgo humeando,
dando voces, pujando,
bajándome los pantalones ...
Váca mi estomago, vaca mi yeyuno,
la miseria me saca por entre mis propios dientes,
cogido con un palito por el puño de la camisa.

Una piedra en que sentarme
no habra ahora para mi?
Aun aquella piedra en que tropieza la mujer que ha dado a luz,
la madre del cordero, la causa, la raiz,
ésa no habrá ahora para mi?

Siquiera aquella otra,
que ha pasado agachándose por mi alma!
Siquiera
la calcárida o la mala (humilde océano)
o la que ya no sirve ni para ser tirada contra el hombre,
ésa dádmela ahora para mi!

Siquiera la que hallaren atravesada y sola en un insulto,
esa dádmela ahora para mi!

Siquiera la torcida y coronada, en que resuena
solamente una vez el andar de las rectas conciencias,
o, al menos, esa otra, que arrojada en digna curva,
va a caer por si misma,
en profesión de entrañna verdadera,
esa dádmela ahora para mi!

Un pedazo de pan, tampoco habrá ahora para mi?
Ya no mas he de ser lo que siempre he de ser,
pero dadme
una piedra en que sentarme.
pero dadme,
por favor, un pedazo de pan en que sentarme,
pero dadme
en español
algo, en fin, de beber, de comer, de vivir, de reposarse;
y después me iré ...
Hallo una extraña forma, esta muy rota
y sucia mi camisa
y ya no tengo nada, esto es horrendo.

Das Rad des Hungrigen

Zwischen meinen eigenen Zähnen hervor komme ich rauchend,
schreiend, um mich schlagend,
und lasse die Hosen herunter ...
Leer steht mein Magen und leer mein Leerdarm,
das Elend zieht mich hervor zwischen meinen eigenen Zähnen,
aufgespießt an einem Zahnstocher von der leeren Manschette.

Es wird sich also kein Stein finden,
auf den ich mich setzen könnte?
Nicht einmal der Stein an dem die Frau strauchelt die geboren hat?
die Mutter des Lamms, der Grund, die Wurzel?
Nicht einmal er wird dasein für mich?

Oder der andere,
der geduckt durch meine Seele gewandert ist,
oder
der Kalkstein oder der Stein des Bösen (o mildes Meer)
oder der zu nichts nutz ist, nicht einmal zur Steinigung,
gebt mir wenigstens den!

Oder wenigstens jenen, der tückisch und einsam in einer      Beleidigung steckt,
gebt mir wenigstens den!
Oder den scheelen gekrönten, in dem nur einmal
der Schritt von guten Gewissen widerhallt,
oder zumindest den ändern, der in noblem Bogen geworfen,
von selber fällt
im Bekenntnis seiner aufrichtigen Innereien,
gebt mir wenigstens den!

Wird sich kein Stückchen Brot für mich finden?
Ich werde nicht länger sein der ich sein muß,
aber gebt mir doch
einen Stein, auf den ich mich setzen kann,
aber gebt mir doch,
bitte, ein Stückchen Brot auf das ich mich setzen kann,
aber so gebt mir doch,
versteht ihr nicht deutsch?
endlich etwas zu trinken, zu essen, zu leben, mich auszuruhn,
und dann will ich gehen...
Ich finde eine seltsame Form, es ist sehr zerrissen
und schmutzig mein Hemd
und ich habe nichts mehr: das ist entsetzlich.

 - César Vallejo, Gedichte. Frankfurt am Main 1963

Hunger (17)

Trieb Ernährungsverhalten Mangel
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