undertjährige Wie viele Jahre würde sie noch leben... ?
»Ah«, seufzte sie, »die jungen Leute von achtzig und neunzig Jahren sind glücklich. Sie müssen nicht an den Tod denken. Sie sagen sich alle, daß sie hundertjährig werden können. Aber eine Hundertjährige, was kann sie noch werden, ich bitte euch? Der Tod ist da, ganz nahe, und lauert auf.
Es wäre noch besser, einen Räuber unter dem Bett zu finden; die Räuber sind
nicht immer böse. Aber der Tod, wie soll man ihn besänftigen? Und wie soll man
ihm vorbeugen? Meine Mutter ist sehr jung gestorben, mit achtzig Jahren, an
einer Lungenentzündung. Ja, da war sie sicher selber schuld. Warum hat sie,
da es doch schneite, nachsehen wollen, ob der Hühnerhof gut geschlossen und
die Hühner vor den Füchsen sicher seien! Heute, da die Hühner so teuer sind,
würde ich eine solche Unvorsichtigkeit eher begreifen; aber damals kosteten
sie zwei Franken... Mein Vater ist an den Folgen eines unglücklichen Sturzes
auf der Treppe gestorben. Das erinnert mich daran, daß es höchste Zeit wäre
zu untersuchen, in welchem Zustand sich die untersten Stufen meiner Treppe befinden,
um so mehr, als man sie in dem Halbdunkel dort nicht sieht. Es wäre auch nötig,
die Absätze meiner Schuhe und meiner Knopfstiefel nachzusehen. Wenn sie abgenützt
sind, können sie ebenfalls schlimme Unfälle verursachen. Wir wollen sehen, was
für andere mögliche Gründe für einen vorzeitigen Tod es noch gibt.« (Das Wort
›vorzeitig‹ erschien der Sprecherin des Monologs durchaus nicht komisch;
sie lächelte nicht einmal.) »Ach ja, letzthin dieses Siedfleisch mit Cornichons
hat mir nicht gutgetan. Ich mußte mir ja nach dem Essen ein heißes Tuch auf
den Leib legen. Lag der Fehler am Rindfleisch oder an den Cornichons? Schwieriger
Entscheid. Am besten wird es sein, in Zukunft das eine und das andere zu meiden.
Ich habe ja noch Zunge und Fisch und Poulet, die mir nie Beschwerden bereiten.
Und die Kartoffeln, außer den Pommes frites, mit denen ich kein Glück habe,
scheinen mir ohne Gefahr. Aber im Grunde ist nichts so gut wie eine Minestra.«
Und Madame Redard trat an ihren Herd, um sich eine Minestra zu bereiten, bei
der sie weder die Teigwaren noch die Bohnen vergaß. - Maurice Sandoz, Der
Lehnstuhl.
In: M. S., Am Rande. Zürich 1967
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