Hundertarmige  Er hatte die Hundertarmigen erblickt.

Es waren drei Riesen, größer als die Titanen, und jeder von ihnen hatte hundert Arme und hundert Beine und fünfzig Rümpfe und fünfzig Köpfe, und jedes der dreihundert Beine war vom andern verschieden, und jeder Arm vom andern, und jeder Rumpf vom andern, und erst recht jeder Kopf! Der eine Kopf war ein einziges lippenloses Maul mit riesigen schwarzen Zähnen, die unentwegt auf-einanderkrachten und die Luft zerbissen; der zweite war eine schlabbernde gelbe Zunge, die über den Boden glitt und nach Flüssigem lechzte; der dritte war nur ein Auge mit einer roten Pupille, der vierte ein einziges gieriges Ohr, der fünfte eine viellöchrige schnüffelnde Nase, der sechste ein heulender Schlund, der siebte vielhundert plappernde Lippen, der achte eine gewölbte, von tiefen Furchen durchschnittene Stirn, der neunte ein Doppelstrom von Tränen aus zwei stachelwimprigen schlaffen Lidern, der zehnte ein zottiger Klumpen schneeweißes Haar, der elfte ein einziger Quader Kinn, der zwölfte ein Knäuel dünner gespaltener Zungen in einem Strahl aus zischendem Dampf. Dies waren die Köpfe, die Prometheus erblicken konnte; die andern im Hintergrund wurden von den vorderen verdeckt, doch manchmal schossen aus ihnen Funken empor oder schnellten Nattern zur Höhe oder schwollen und schrumpften graue, von roten Netzen durchzogene Wolken oder wehten Haare wie brennendes Gras. So vielgestaltig grauenvoll wie die Köpfe waren aber auch die Arme und daran die Hände: Eine Kralle die eine, eine Tatze die zweite, ein Saugnapf die dritte, Spinnfäden die vierte, Dornen die fünfte, eine Platte die sechste, Glut die siebte, quallig die achte, neblig die neunte, schwammig die zehnte, ein Huf die elfte, ein Stachel die zwölfte, und alle schwangen und kreisten und hieben und griffen durcheinander auf ihren Armen, die schlangenhaft waren und klotzig und sehnig und wulstig und dünn wie Ranken und gewaltig wie Keulen, und sie wuchsen aus Rümpfen von Eisen, von Kupfer, von Silber, von Gold, von Fels, von Sand, von Lehm, von Asche, von Schuppen, von Fell und von Teig und von Salz und von Grind und von Eis, von Dünsten und Feuer, und die Rümpfe standen wieder auf Beinen, die Stämme waren, Stelzen, Knorren, Halme, Stümpfe, Stiele aus Fleisch und Stubben aus Gallert, und um die Füße dieser dreihundert Beine war das Kristall des Bodens gegossen, so daß die Ungeheuer darin wurzeln mußten, und sie wollten doch heraus mit der Kraft von dreimal hundert ver­zweifelten Mühn! So zerrten sie also und zogen und rissen und dehnten und reckten und stemmten sie sich, aus allen ihren Rachen und Schlünden und Kehlen und Mündern unhörbar brüllend und tobend und mit den dreihundert Armen und Händen schleudernd und greifend und krallend, der ersehnten Freiheit zu.   - Franz Fühmann, Prometheus. Die Titanenschlacht. In: F.F., Marsyas. Mythos und Traum. Leipzig 1993 (Reclam 1449, zuerst 1974 ff.)

 

Vielarmigkeit

 

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