Hochgefühl    Eine Sprosse (oder Runge) nach der anderen an einem Punkt knapp oberhalb seiner Schultern packend, erklomm er in gemessenem Tempo, professionell und zuversichtlich die zweifach verlängerte Leiter. Er liebte Höhen, seit der Pfarrer der Johanneskirche in Burford ihn und die anderen Chorknaben mit aufs Kirchendach genom­men hatte. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben hatte er an jenem Tag ein Gefühl der Macht und Überlegenheit gehabt, als er sich völlig sicher und mit einem seltsamen Hochgefühl dort oben frei bewegte, während die anderen sich ängstlich an den schmalen Simsen entlangschoben.

Heute ging es ihm nicht anders.

Als er die drittletzte Sprosse erreicht hatte, hob er den Kopf und erkannte, dass er mühelos an dem stehenden Dachfenster würde arbeiten können. Dann sah er nach unten, wo die Leitern, wie es sich gehörte, in der Mitte ein bisschen durchhingen, ansonsten aber bombenfest standen. Komisch, die meisten Leute dachten, dass einem in luftiger Höhe nichts passieren konnte, solange man nicht nach oben oder nach unten guckte. Blödsinn! Man musste nur vermeiden, nach rechts oder links zu sehen, denn dann bestand (zumindest für ihn) tatsächlich die Gefahr, jedes Gefühl für Ver­tikale und Horizontale zu verlieren. Er steckte sein rotes Stanley-Messer erst in den oberen Fenstersturz, dann in die Fensterbank, wo es in dem morschen Holz fast keinen Widerstand fand. Angesichts der Jahreszahl, die er über der Tür gelesen hatte, war das ja auch kein Wunder. Er befestigte — das machte er immer so — das obere Ende der Leiter an der Regenrinne und begann mit der Arbeit.

Zur vereinbarten Zeit goss Mrs. Bayley kochendes Wasser über einen Teebeutel, drückte ihn mit der Küchenzange aus und gab zwei gehäufte Teelöffel Zucker dazu. Als sie den dampfenden Becher und zwei Kekse auf ein rundes Tablett gestellt hatte und sich gerade auf den Weg nach unten machen wollte, zog etwas sehr Sonderbares über ihr Gesichtsfeld: Zwei schräge parallele Linien überquerten fast im Zeit­lupentempo den länglichen Rahmen des Fensters im ersten Stock. So fest hatte sich dieses flüchtige Phänomen ihrer Netzhaut eingeprägt, dass sie es am Nachmittag genau be­schreiben und sich auch den markerschütternden Schrei des Mannes in Erinnerung rufen konnte, der mit dem Kopf voran kaum einen Meter von ihrer Haustür entfernt auf dem festgestampften Fußweg unter ihr landete.  - Colin Dexter, Und kurz ist unser Leben. Reinbek bei Hamburg 2000

Glück

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