ineingezogenwerden  Das waren die verschiedenen Leiden, die sich im Laufe eines Jahres nach und nach bei Chia Jui einstellten. Das Bild der unnahbaren Frau Phönix füllte seine Tage; Alpträume und Schlaflosigkeit seine Nächte.

Eines Tages klopfte ein hinkender taoistischer Wandermönch an die Tür des alten Tai Ju und bettelte um Almosen. Als Gegenleistung erbot er sich zur Heilung von etwaigen Gemüts- und Seelenkrankheiten. Chia Jui beschwor seine Umgebung, man möchte den Meister an sein Lager führen.

Der Priester betrachtete ihn versunken eine Weile. »Mit Medizinen ist deine Krankheit nicht zu kurieren. Aber ich habe ein kostbares Etwas bei mir, das will ich dir geben. Du brauchst es nur täglich anzuschauen, dann wirst du wieder gesund werden.«

Bei diesen Worten kramte er aus seinem Schnappsack einen verhüllten Spiegel hervor. Die Rückseite des Spiegels, in der man sich gleichfalls spiegeln konnte, trug die eingravierte Inschrift, »Wunderspiegel des Mondes und der Winde«.

»Dieser Spiegel stammt aus dem luftigen Geisterschloß der Fee des schreckhaften Erwachens im Wahnreich der großen Leere«, erklärte der Priester. »Seine Kraft besteht darin, verderbte Seelen zu läutern und von unreinen Gedanken und Gelüsten zu befreien. Nach drei Tagen komme ich wieder und hole mir den Spiegel zurück. Bis dahin wird er Euch gesund machen.«

Kaum war seine Rede zu Ende, da hatte er sich zum Staunen der Umstehenden verflüchtigt und war verschwunden. Chia Jui nahm also den Spiegel in die Hand und schaute, wie ihn der Priester geheißen, in die Rückseite. Entsetzt fuhr er zurück. Ein Totengerippe grinste ihn aus dem Spiegel an!

»Hat dieser verfluchte Kerl mich nur erschrecken wollen?« rief er zornig aus.

Und er wandte den Spiegel um und blickte in die Vorderseite. Da grüßte ihn das holde Bild von Frau Phönix und winkte ihn mit der Hand zu sich. Selig vor Freude fühlte er sich, er wußte selbst nicht wie, auf magische Weise in den Spiegel hineingezogen, und dann genoß er mit der Geliebten die brünstige Wonne des Wind- und Wolkenspiels. Als das Spiel beendet war, geleitete sie ihn sanft wieder aus dem Spiegel hinaus. Er fand sich wie zuvor auf dem Lager liegend, aber noch stöhnend und ächzend unter der Nachwirkung des köstlichen Erlebnisses.

Jetzt kehrte er den Spiegel wieder um und blickte von neuem in die Rückseite. Abermals grinste ihn das abscheuliche Totengerippe an und trieb ihm den Angstschweiß aus den Poren. Obwohl noch vom ersten Liebesgenuß erschöpft, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, einen zweiten Blick in die verbotene Vorderseite des Spiegels zu tun, und wieder winkte und lächelte ihm Frau Phönix verführerisch zu und zog ihn mit magischer Gewalt in den Spiegel hinein zu neuem Wind- und Wolkenspiel. Drei-, viermal widerholte sich das gleiche Erleben. Als sie ihn zum vierten Male hinausgeleitete, fühlte er sich auf einmal von zwei Männern gepackt, die ihn in Eisenketten legten.

»Ich will euch folgen! Aber laßt mich den Spiegel mitnehmen!« schrie er laut.

Es waren seine letzten Worte. Alles drängte ans Lager. Der Kranke atmete nicht mehr! Man fand das Bettlaken von reichlichen Spuren vergossener Manneskraft genetzt. - Ts'ao Hsüeh-ch'in, Der Traum der Roten Kammer, (ca. 1754), nach (bo4)

Ziehen Spiegel
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Verwandte Begriffe
Sog
Synonyme