Derzensgüte

Ignaz Philipp Semmelweis
1818-1865

Aus all seinen Worten und Handlungen
sprach unendliche Herzensgüte.

Das Wiener Gebärhaus war damals
das größte der Welt. Herrlich,
diese Gelegenheit, jeden Morgen
die frischen weiblichen Leichen
in der Totenkammer sezieren zu dürfen!

Mit seltener Ausdauer führte er
diese eigenartigen Untersuchungen durch.

Er war ziemlich kahl, von kindlich
naiver Denkungsart
, und etwas beleibt.

Die Sterblichkeit, zwischen achtzehn
und sechsunddreißig Prozent,
machte einen unauslöschlichen Eindruck
auf sein Gemüth.
Doch wie ein Taumel
brannte der Csárdás auf den Redouten.
Er tanzte vor Freude, und dreimal
des Abends wechselte er, so fiebrig
war ihm zumut, die Wäsche. Später erst
suchten ihn jene wehmütigen
Regungen heim, die das Lehen
nicht beneidenswert machen.

Ansichten führender Kliniker
zur Genese des Kindbettfiebers
(in Auswahl): Blutkrasen; Sumpfluft;
schädliche Wirkungen toter Früchte;
Miasmen; auch mangelnde Dunstschlöte;
nahe Leichenkammern und
Senkgruben;
verhaltene Milch; gewisse Einflüsse
kosmischer und tellurischer Art.

M. a. W. ein abergläubisches Brabbeln.
Alles war unerklärt, alles zweifelhaft,
nur die große Anzahl der Toten nicht.

Ein Grübler, provisorischer Assistent,
aus der Provinz. Eher schüchtern. Doch allen
medizinischen Fakultäten der Welt
sage ich: Ihr lehret den Irrthum!
Es ist die verpestete Luft, es ist
das nekrotische Gift, das jauchende,
brandige, nasse Geschwür ist es,
es sind die zerfallenden Leichenteile,
die fauligen Stoffe, die Schwämme,
die Wäschestücke, die Löffel, die Scheren,
die Leibschüsseln und die Zangenblätter;

es ist der gefettete Finger, die innre,
kadaveröse, touchierende Hand, ja,
die Hand des Arztes ist es, die tötet!
Eine einzige Unze Chlorkalk genügt,
eine Unze nur auf einen Eimer Wasser,
dann hat der Giftmord ein Ende,
öfters blickte er seine auffallend
fleischigen und geschickten Hände
an,
brach in Thränen aus und sah sich,
seiner selbst nicht länger mächtig,
genöthigt, die Vorlesung abzubrechen.

Kommissionen treten zusammen,
finden nichts. Jemand lacht.

Die herrschende Lehrmeinung herrscht.
In der Klinik wird weitergestorben.
Die Waffen der Mafiosi sind septisch:
das ölige Gutachten und das dürre Reskript,
die gefälschte Statistik, das stumpfe,
lähmende Schweigen. An diesem Massacre
sind Sie, Herr Hofrath, betheiligt!

So, durch die Feindschaften, die er fand,
auf das höchste erregt, schreibt er

verworren, ausfallend, unbeholfen,
schweift ab, wiederholt sich,
dreht sich im Kreise: Das Morden,
schreibt er, muß aufhören,
und damit das Morden aufhöre,
werde ich Wache halten. Mörder
,
schreibt er (An alle Geburtshelfer!),
nenne ich einen jeden,
der gegen meine Regeln verstößt,
denn er handelt als ein Verbrecher.

Überall sieht er Spitzel, Phantome.

Seine Freunde erkennen ihn nicht.
Er wird aus Kummer fettleibig, wirkt
entstellt. (Unter einem Phantom
versteht man in der Medizin
ein künstliches oder natürliches,
mit Leder bezogenes weibliches Becken,
das beim Unterricht in der Technik
der Operationen Verwendung findet.)

Auf den Straßen von Budapest
schlägt er Plakate an:
Ich warne Euch vor den Ärzten! 
Kindisches Wesen, Absonderlichkeiten:
Geht unbekleidet in seinem Zimmer herum
und setzt die Füße zerstreut auf den Tisch,
in welch allem sich seine Umnachtung
schon nicht mehr verkennen ließ.

Hinter ihm auf dem Korridor
kichert es. So wird man ihn allezeit
zu den größten Wohlthätern
der Menschheit rechnen und stets
das traurige Laos beklagen müssen,
das ihm beschieden war.

Es ist zwei Uhr nachmittags.
Eine Meute von Feinden verfolgt ihn.
Er sieht sie deutlich, schwarz
wie die Fliegen, in ihren Gehröcken,
und er flieht in die Anatomie.
Auf dem Marmorblock eine Leiche.
Er ergreift das Skalpell, trennt
den Kadaver auf, wirft mit Fleisch,
wühlt in den Eingeweiden,
droht, schneidet sich, man entwaffnet ihn,
er stirbt nach drei Wochen der Agonie.

Aber so war es nicht. Das sind Träume,
Übertreibungen! In Wirklichkeit
war es ein schöner, friedlicher Sonntag
im Juli, und er fuhr freiwillig mit.
Erst gegen Abend wehrt er sich.
Sechs Wärter waren kaum genug,
ihn zu bändigen.
Zwangsjacke, Dunkelkammer.
Die septische Wunde am Mittelfinger
wurde zu spät bemerkt. Eine Blutvergiftung:
So hat er den Sieg seiner Lehre nicht mehr erlebt.

- Hans Magnus Enzensberger, Die Elixiere der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002

Herz Güte

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