ermeneutik  »Jetzt möchte ich mal hören, was mir der Bürger Jeufroy über die Sintflut zu sagen hat!«

Sie fanden ihn in seinem kleinen Garten, wo er die Mitglieder des Kirchenrates erwartete, der sich in Kürze zusammenfinden sollte, um über die Anschaffung eines neuen Meßgewandes zu beraten.

»Die Herren wünschen...?«

»Etwas Aufklärung bitte.«

Und Bouvard hob an: »Was bedeuten in der Genesis die ›Brunnen der Tiefe, die aufbrachen‹ und die ›Schleusen des Himmels‹? Denn eine Tiefe kann nicht aufbrechen, und der Himmel hat keine Schleusen!«

Der Abbé schloß die Augen und entgegnete, man müsse eben stets zwischen Buchstabe und Geist unterscheiden. Dinge, die einen anfangs verletzten, würden bei tieferem Eindringen glaubwürdiger.

»Sehr gut! Aber wie dann den Regen erklären, der die höchsten Berge überspülte, Berge, die zwei Meilen hoch waren! Denken Sie bloß! Zwei Meilen! Eine Fluthöhe von zwei Meilen!«

Und der Bürgermeister, der sich hinzugesellte, murmelte: »Sapperment, was für ein Fußbad!«

»Geben Sie zu«, sagte Bouvard, »daß Moses mordsmäßig übertreibt.«

Der Geistliche hatte Bonald gelesen und erwiderte: »Ich kenne seine Motive nicht. Zweifellos deshalb, weil er den Völkerschaften unter seiner Oberhoheit einen heilsamen Schrecken einjagen wollte!«

»Und all diese Wassermassen, woher kamen die eigentlich?«

»Was weiß ich? Die Luft hatte sich in Wasser verwandelt, wie das ja Tag für Tag vorkommt.«

Durch die Gartenpforte sah man Monsieur Girbal, den Leiter des Gemeindesteueramtes, zusammen mit Polizeihauptmann Heurtaux, Grundbesitzer, eintreten; und der Gastwirt Beijambe reichte dem Krämer Langlois den Arm, der aufgrund seines Katarrhs etwas beschwerlich daherkeuchte.

Pécuchet nahm, ohne sich um sie zu kümmern, erneut das Wort: »Verzeihung, Herr Jeufroy. Das Gewicht der Atmosphäre - (die Wissenschaft beweist es uns) - kommt dem einer Wassermenge gleich, die den Erdball, gegebenenfalls, in einer Dichte von zehn Metern umschließt. Selbst wenn also die gesamte kondensierte Luft in flüssigem Zustand herabstürzte, würde sie die Masse der bereits vorhandenen Gewässer doch nur geringfügig vermehren.«

Und die Kirchenältesten rissen beim Zuhören die Augen weit auf.

Der Geistliche wurde ungeduldig.

»Wollen Sie etwa leugnen, daß man Muscheln auf den Bergen gefunden hat? Wer hat sie dort abgelagert, wenn nicht die Sintflut? Sie sprießen, soweit ich weiß, gewöhnlich nicht wie die Mohren aus der Erde!« Und da diese Bemerkung die kleine Versammlung zum Lachen brachte, fügte er mit zusammengekniffenen Lippen hinzu: »Es sei denn, das ist eine neue Entdeckung der Wissenschaft!«

Bouvard wollte mit der Auffaltung der Gebirge und der Theorie von Elie de Beaumont antworten.

»Kenne ich nicht«, antwortete der Abbé.

Foureau beeilte sich zu sagen: »Er kommt aus Caen. Ich habe ihn einmal dort in der Präfektur gesehen!«

»Aber wenn Ihre Sintflut«, versetzte Bouvard rasch, »Muscheln abgelagert hätte, fände man ihre geborstenen Schalen doch an der Oberfläche und nicht irgendwo in einer Tiefe von dreihundert Metern.«

Der Priester berief sich auf die Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift, auf die Überlieferung des Menschengeschlechts und die im sibirischen Eis gefundenen Tiere.

Das beweise aber doch nicht, daß der Mensch zur gleichen Zeit wie sie gelebt habe! Die Erde, so Pecuchet, sei bemerkenswert viel älter. - »Das Mississippi-Delta ist Zehntausende von Jahren alt. Die gegenwärtige Epoche währt bereits hunderttausend Jahre, wenigstens. Die Königslisten von Manetho...«

Der Graf von Faverges gesellte sich dazu.

Bei seinem Eintritt schwiegen plötzlich alle still.

»Aber fahren Sie doch fort, bitte! Wovon war die Rede?«

»Diese Herren haderten mit mir«, antwortete der Abbé.

»Worüber?«

»Über die Heilige Schrift, Herr Graf!«

Daraufhin machte Bouvard geltend, sie als Geologen hätten doch sicherlich das Recht, die Religion in Frage zu stellen.

»Vorsicht!« sagte der Graf. »Sie kennen das Sprichwort, werter Herr: Etwas Wissenschaft entfernt einen von der Religion, viel Wissenschaft führt zu ihr zurück.« Und in zugleich hochfahrendem und väterlichem Tonfall: »Glauben Sie mir! Sie werden zu ihr zurückkehren! Sie werden zurückkehren!«

»Vielleicht! Aber was ist von einem Buch zu halten, in dem behauptet wird, das Licht sei vor der Sonne erschaffen worden, so als ob die Sonne nicht die alleinige Ursache des Lichtes wäre!«

»Sie vergessen das sogenannte boreale, das Nordlicht«, sagte der Geistliche.

Ohne auf diesen Einwand einzugehen, leugnete Bouvard strikt, daß es einerseits Licht und andererseits Finsternis, daß es Morgen und Abend habe geben können, als noch gar keine Sterne dagewesen seien, und daß die Tiere plötzlich aufgetreten seien, weil sie sich nämlich auf dem Wege langsamer Entwicklung gebildet hätten.

Da die Gartenwege zu schmal waren, trat man, eifrig gestikulierend, auf die Beete. Langlois überkam ein heftiger Hustenanfall. Der Hauptmann rief: »Sie sind ja Umstürzler! Revolutionäre sind Sie!« Und Girbal: »Friede! Friede!« Und der Priester: »Was für ein Materialismus!« Und Foureau: »Befassen wir uns lieber mit unserem Meßgewand!«

»Nein! Lassen Sie mich reden!« Und Bouvard, der in Hitze geriet, verstieg sich zu der Behauptung, der Mensch stamme vom Affen ab!

Alle Kirchenältesten schauten sich zutiefst verblüfft an, gleichsam um sich selbst davon zu überzeugen, daß sie keine Affen seien.

Bouvard nahm den Faden wieder auf: »Wenn man die Föten einer Frau, einer Hündin, eines Vogels, eines Frosches miteinander vergleicht...«

»Genug!«

»Aber ich, ich gehe sogar noch weiter!« schrie Pécuchet. »Der Mensch stammt von den Fischen ab!« Gelächter ertönte. Pécuchet aber, ganz unbeirrt: »Der Telliamed, ein arabisches Buch...«

»Meine Herren, zur Sitzung

Und man ging in die Sakristei hinüber.

Die beiden Freunde hatten den Abbé nicht so leicht aufs Kreuz legen können, wie sie sich das vorgestellt hatten; deshalb sah Pécuchet bei ihm auch den »Stempel des Jesuitentums« ausgeprägt. - Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet. Frankfurt am Main 2003 (Die Andere Bibliothek 222, zuerst 1881)

Hermeneutik (2) Auf der dritten Kupfertafel von Hogarths "Buhlerin" sehen wir über dem Bett der Lustdirne eine Rute hängen und der geistreiche Lichtenberg bemerkt in seinen Erklärungen dieser Bilder: "Wie kommt aber, wird man fragen, die pädagogische Faschine oder der Staubbesen der Philantrophie hierher, und gerade an die Bettwand? Das Problem, ich muss gestehen, ist fürwahr nicht leicht. Ich wünschte, es wäre schwerer, oder gar so schwer, dass es schlechterdings nicht aufgelöst werden könnte. Indessen, wir wollen es versuchen, doch stehen wir hier bei einer Stelle, wo selbst die Moral das Moralisieren verbietet und die gesprächigste Hermeneutik verstummt, oder, wenn sie genötigt wird, zu sprechen, wenigstens nichts weiter sagt als: ,Ich bin stumm!'

Die Weltweisen haben längst bemerkt, dass Erblinden die Hälfte des Todes sei, und wirklich scheint die Natur diese Meinung zu unterschreiben, welches eben nicht immer der Fall bei Bemerkungen der Weltweisen ist. Ich zweifle nämlich, ob es gegen irgend ein Uebel in diesem Jammerthal mehr Hilfsmittel giebt, als gegen das Nichtsehenkönnen. Bliebe die Sonne aus, gut, so stecken wir Lichter an. Das ist eine Kleinigkeit. Verschliesst der Staar das Fenster, wiederum gut, so macht der Augenarzt den Laden wieder auf. Wird der Mensch Myops (Kurzsichtiger) oder sieht er von dem Universo nichts als die Spitze seiner Nase, oder wird er Presbyt (Weitsichtiger) und sieht den Kirchturm deutlich, aber nicht seinen Nächsten, der vor ihm steht, so ist der ganze Handel mit zwölf Groschen abgethan, die man an den Glasschleifer bezahlt. Mit Hilfe dieser grossen Tripel-Allianz von Lichterzieher, Augenarzt und Glasschleifer hat der Mensch bisher die absolute sowohl als relative Blindheit so kräftig bekämpft, defensiv wenigstens, dass ihre Eingriffe, die sie dennoch hier und da thut, kaum der Rede wert sind . . .

Aber ach, wenn es doch auch Telegraphen für die übrigen Sinne gäbe! Allein da sieht es erbärmlich aus. Wer da ein Licht anzünden oder den Staar ausziehen oder eine Brille schleifen könnte! O, es wäre der Stein der Weisen, ich meine des Alters, ohne welche keine Weisheit möglich ist. Man hat es tausendmal versucht, aber mit welchem Erfolg? Der Geist, erst voraus und willig, und das Fleisch hinterdrein und schwach, eröffnen den Zug; dann folgt armselige erzwungene Willigkeit des Fleisches, hinter welches der Geist erbärmlich herkroch und endlich — war gar kein Zug mehr und Geist und Fleisch und Auge und Brille waren verloren. — Aber wir sprechen von dem Edukations-Besen an der Bettwand. Ist denn das eine Brille für — Presbyten? Die Wahrheit zu gestehen, ich weiss es selbst nicht, nur so viel weiss ich, dass sie, wenn es eine ist, nicht auf die Nase appliciert wurde ..."  - (hel)

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