Herbst, chinesischer  Von den vielen wissenschaftlichen Arbeiten, denen sich mein Vater in den karg bemessenen Stunden seiner inneren Ruhe und Muße und zwischen den Schicksalsschlägen und Katastrophen widmete, mit denen ihn das Leben abenteuerlich und stürmisch bedachte, standen seinem Herzen die Studien über vergleichende Meteorologie und insbesondere über das spezifische Klima unserer einzigartigen besonderen Provinz am nächsten. Er war es eigentlich, mein Vater, welcher die Grundlagen zu einer exakten Analyse der Klimaformationen gelegt hatte. Sein »Abriß einer allgemeinen Systematik des Herbstes« hatte ein für allemal das Wesen jener Jahreszeit erklärt, die in unserem Provinzklima jene langwierige, verzweigte, parasitenhaft wuchernde Form annimmt, die sich unter der Bezeichnung »chinesischer Herbst« weit in die Tiefe unserer farbigen Winter erstreckt. Was sage ich? Er hatte als erster den sekundären, abgeleiteten Charakter dieser späten Formation aufgeklärt, die nichts anderes war als eine eigenartige Vergiftung des Klimas durch Miasmen jener überreifen und entarteten Barockkunst, die in unseren Museen zusammengepfercht ist. Diese in Langweile und Vergeßlichkeit zerfallende Musealkunst ohne Ausweg und Abfluß, verzuckert wie alte Konfitüren, versüßt unser Klima und ist die Ursache jenes schönen Malariafiebers und jenes bunten Deliriums, an denen unser langwieriger Herbst dahinsiecht. Das Schöne ist nämlich eine Krankheit, lehrte mein Vater, ist eine Art Schauder über eine geheimnisvolle Infektion, eine dunkle Ankündigung des Zerfalls, die sich aus der Tiefe der Vollkommenheit ertfebt und von der Vollkommenheit mit Seufzern höchsten Glücks begrüßt wird.  - Bruno Schulz, Die letzte Flucht des Vaters. In: B. S., Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. München 1966
 
 

Herbst

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme