ellsicht  Plotin werden merkwürdige okkulte Fähigkeiten zugeschrieben. So soll er jenen magischen Angriff leibhaft gespürt haben; die Glieder hätten sich ihm zusammengepreßt wie ein Geldbeutel beim Schließen. Einmal auch versucht ein ägyptischer Priester, den Plotin einwohnenden Dämon zu beschwören; was aber erscheint, ist kein Dämon, sondern ein Gott, worauf die Umstehenden in Anbetung versinken. Auch im alltäglichen Leben ist Plotin seltsam hellsichtig. Diebe etwa vermag er auf den ersten Blick zu erkennen, und die innere Verfassung, ja sogar die künftigen Schicksale seiner Umgebung errät er in einem Augenblick.  - Wilhelm Weischedel, die philosophische Hintertreppe. München 1986 (dtv 1119, zuerst 1966)

Hellsicht (2) Ich bin jetzt fünfundachtzig Jahre alt und habe vier Generationen gesehen. Ich bin nicht reinen Herzens gewesen, denn ins Herz strömt alles schwarze Blut; aber ich habe Augenblicke gehabt, in denen ich in einen kindlichen, unbewußten Zustand versetzt war und am Umgang mit den Menschen Freude hatte. Ich wußte, daß sie mich haßten, über mein Unglück lachten, auf meinen Fall warteten. Aber ich war immun gegen ihre Bosheit. Ich sah in ihnen bloß arme Menschen, die sich mit mir freuten; die mir sympathisch waren; ich empfand sie als freundlich, und ich hatte meinen herzlichen Spaß; auch wenn sie boshaft mit mir scherzten, verstand ich es nicht; und wenn sie eine offene Gemeinheit sagten, faßte ich es als einen Scherz ohne Sinn auf. Das ist eine Art angenehmer Somnambulismus.

Ich kann jedoch manchmal erwachen; dann sehe ich die Gesellschaft nackt; sehe ihre unreine Wäsche durch die Kleider, ihre Gebrechen, ihre ungewaschenen Füße. Aber am schlimmsten von allem, ich höre die Gedanken hinter ihren Worten; ich sehe ihre Mienen, die nicht mit den Worten übereinstimmen; ich fange einen Seitenblick auf; ich bemerke, wie ein Fuß unter dem Tisch aufstampft; wie sich eine Nase über mein Glas Wein rümpft; eine Gabel kritisch an einem Gericht vorübergeht - - Dann ist es unheimlich zu leben!

Ich hatte einen Freund, der auf einer Gesellschaft von diesem Hellsehen befallen wurde. Er setzte sich mitten auf den Tisch, erzählte alles, was er im Lauf des Abends gesehen hatte, entkleidete seine Freunde; mit der Folge, daß er als wahnsinnig in eine Anstalt gebracht wurde. - (blau)

Hellsicht (3) Wenn dieses Herauslesen aus Sternen, Eingeweiden, Zufällen in der Urzeit der Menschheit das Lesen schlechthin war, wenn es weiterhin Vermittlungsglieder zu einem neuen Lesen, wie die Runen es gewesen sind, gegeben hat, so liegt die Annahme sehr nahe, jene mimetische Begabung, welche früher das Fundament der Hellsicht gewesen ist, sei in Jahrtausendlangem Gange der Entwicklung ganz allmählich in Sprache und Schrift hineingewandert und habe sich in ihnen das vollkommenste Archiv unsinnlicher Ähnlichkeit geschaffen. Dergestalt wäre die  Sprache die höchste Verwendung des mimetischen Vermögen: ein Medium, in das ohne Rest die frühern Merkfähigkeiten für das Ähnliche so eingegangen seien, daß nun sie das Medium darstellt, in dem sich die Dinge, nicht mehr direkt wie früher in dem Geist des Sehers oder Priesters sondern in ihren Essenzen, flüchtigsten und feinsten Substanzen, ja Aromen begegnen und zu einander in Beziehung treten. Mit andern Worten: Schrift und Sprache sind es, an die die Hellsicht ihre alten Kräfte im Laufe der Geschichte abgetreten hat. - Walter Benjamin, Lehre vom Ähnlichen. In: Zur Aktualität W.B.s. Hg. Siegfried Unseld. Frankfurt am Main 1972

Hellsicht (4)

"Clairvoyance"

- René Magritte

Sehen Wahrnehmungsvermögen
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Verwandte Begriffe
Ahnungsvermögen
Synonyme