H  eilsordnung   Er las bei dem alten Manne ein Buch, worin der Prozeß der ganzen Heilsordnung, durch Buße, Glauben, und gottselig Leben, mit allen Zeichen und Symptomen ausführlich beschrieben war.

Bei der Buße mußten Tränen, Reue, Traurigkeit, und Mißvergnügen sein: dies alles war bei ihm da. Bei dem Glauben mußte eine  ungewohnte Heiterkeit und Zuversicht zu Gott in der Seele sein: dies kam auch. Und nun mußte sich drittens das gottselige Leben von selber finden: aber dies fand sich nicht so leicht.

Anton glaubte, wenn man einmal fromm und gottselig leben wolle, so müsse man es auch beständig, und in jedem Augenblicke, in allen seinen Mienen und Bewegungen, ja sogar in seinen Gedanken sein; auch müsse man keinen Augenblick lang vergessen, daß man es sein wolle.

Nun vergaß er es aber natürlicherweise sehr oft: seine Miene blieb nicht ernsthaft, sein Gang nicht ehrbar, und seine Gedanken schweiften in irdischen weltlichen Dingen   

Nun glaubte er, sei alles vorbei, er habe noch soviel, wie nichts getan, und müsse wieder von vorn anfangen. So ging es oft verschiedne Male in einer Stunde, und dies war für  Anton  ein höchst peinlicher  und  ängstlicher  Zustand.

Er überließ sich wieder, aber beständig mit Angst und klopfendem Herzen, seinen vorigen Zerstreuungen. Dann fing er das Werk seiner Bekehrung einmal von vorn wieder an, und so schwankte er beständig hin und her, und fand nirgends Ruhe und Zufriedenheit, indem er sich vergeblich die unschuldigsten Freuden seiner Jugend verbitterte, und es doch in dem ändern nie weit brachte. Dies beständige Hin- und Herschwanken ist zugleich ein Bild von dem ganzen Lebenslauf seines Vaters, dem es im fünfzigsten Jahre seines Lebens noch nicht besser ging, und der doch immer noch das Rechte zu finden hoffte, wornach er so lange vergeblich gestrebt harte.

Mit Anton war es anfänglich ziemlich gut gegangen: allein seitdem er kein Latein mehr lernen sollte, litte seine Frömmigkeit einen großen Stoß; seine Frömmigkeit war nichts als ein ängstliches, gezwungenes Wesen, und es wollte nie recht mit ihm fort.

Er las darauf irgendwo, wie unnütz und schädlich das Selbstbessern sei, und daß man sich bloß leidend verhalten, und die göttliche Gnade in sich würken lassen müsse: er betete daher oft sehr aufrichtig: »Herr, bekehre du mich, so werde ich bekehret!« Aber alles war vergeblich. - Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Stuttgart 1972 (zuerst 1785 - 90) 

 

Glaube Ordnung

 

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