ebamme Es gab einmal einen Mann mit einem großen schwarzen Schnurrbart, der Monsieur Grégoire hieß. (Der Mann und der Schnurrbart trugen diesen Namen.)
Von Jugend an wurde Monsieur Grégoire von einer Fliege belästigt, die ihm beim Sprechen in den Mund flog, und wenn ein anderer etwas zu ihm sagte, flog die nämliche Fliege aus seinem Ohr wieder heraus.
»Sie geht mir auf die Nerven, diese Fliege«, sagte Monsieur Grégoire zu seiner Frau, und diese entgegnete: »Das kann ich verstehen, und außerdem sieht sie sehr hässlich aus. Du solltest einen Arzt zu Rate ziehen.«
Doch kein Arzt vermochte Monsieur Grégoire von seiner Fliege zu kurieren, obwohl er gleich mehrere Ärzte aufsuchte. Stets hieß es, diese Krankheit kenne man nicht.
Eines Tages begab sich Monsieur Grégoire zu einem weiteren Arzt, doch er irrte sich in der Adresse und landete versehentlich bei einer Hebamme.
Es war eine echte Hebamme, denn außer dass sie Frauen entbinden konnte, wusste sie noch eine Menge anderer Dinge.
»Aha, die Fliege, das kenne ich«, sagte die Hebamme, als Monsieur Grégoire sagte: »Verzeihung, ich dachte, ich sei hier bei Dr. Fontin.« Und wie immer flog ihm die Fliege in den Mund.
»Ich kann Sie von Ihrer Fliege heilen«, sagte die Hebamme. »Das freut mich sehr, Madame«, erwiderte Monsieur Grégoire.
Da bot ihm die Hebamme einen Stuhl an und sagte: »Ja, ich kann Sie wegen der Fliege behandeln, aber es ist ein bisschen teuer: etwa drei Viertel von dem, was Sie besitzen.«
Monsieur Grégoire fuhr ein wenig in die Höhe, aber dann sagte er: »Gut, einverstanden«, und er setzte folgendes Schreiben auf: »Ich überlasse der Hebamme
mein Haus (das ihm gar nicht
gehörte),
meine Frau (die er ohnehin loswerden wollte),
zweitausend Francs (die er nicht besaß)
und die Kuh
(die in Wirklichkeit ein wilder Stier war).«
Dann unterschrieb er: Georges Lorenze Grégoire. Das war sein vollständiger Name.
Die Hebamme wusste sehr wohl, dass Monsieur Gregoire in seinem Schreiben gelogen hatte, aber sie sagte nichts, nahm nur den Brief entgegen und spuckte auf den Boden. Dann gab sie Monsieur Gregoire ein paar Pillen und sagte: »Nehmen Sie davon nach jeder Mahlzeit zwei Stück zusammen mit etwas Bärentraubenblättertee.«
»Ist gut. Auf Wiedersehen und vielen Dank«, sagte Monsieur Grégoire und zog zufrieden von dannen.
Später dann nahm er, getreulich die Anweisungen der Hebamme befolgend, mit etwas Bärentraubenblättertee seine Pillen ein.
Am darauf folgenden Morgen war die Fliege gänzlich verschwunden, aber Monsieur Gregoire war marineblau mit zahlreichen roten Reißverschlüssen geworden.
»Das ist ja schlimmer als die Fliege«, meinte seine Frau, aber Monsieur Grégoire selbst sagte nicht viel, denn er wusste, dass er die Hebamme hatte hinters Licht fuhren wollen.
›Da bin ich ja schön reingefallen‹, dachte er bei sich. ›Wenn ich doch nichts weiter hätte als diese kleine Fliege, was wäre ich zufrieden!‹
Aber er ist bis ans Ende seiner Tage marineblau mit roten Reißverschlüssen
geblieben, und das sah sehr hässlich aus, besonders wenn er nackt in seiner
Badewanne saß. - (
wind
)
Hebamme (2)
in brausenden trauben schwärmen sie aus, ihre prallen glänzenden koffer drohn die nüstern der ammen blähn sich vor gier: sie reißen ein fleisch zur welt, dann, gegen abend, sieht sie der mond |
- Hans Magnus Enzensberger, Landessprache. Frankfurt
am Main 1969 (es 304, zuerst 1960)
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