arndrang
Der Whirlpool blubberte in der Mitte des Zimmers vor sich hin, eingerahmt von
grünen Fliesen. Booker saß hinter dem tiefergelegten Becken in einem grünen
Ledersessel. Er umklammerte mit gespreizten Fingern die abgerundeten Lehnen.
Hinter ihm war eine Glastür, die auf einen Innenhof ging.
»Ich warte auf
Sie«, sagte Booker. »Wissen Sie, wie lange ich schon auf Sie warte? Ich habe
keine Ahnung, wo die andern sind, ich hab nach ihnen gerufen... haben Sie Juicy
Mouth gesehen?«
»Wer ist Juicy Mouth?«
»Angeblich mein Leibwächter. Mann,
ich muß auf‘s Klo.«
Chris trat zu ihm und musterte die Unterkante des Sessels.
»Was hat die Frau am Telefon gesagt?«
»Es war
das Miststück, das mich angeblich liebt.« »Was hat sie gesagt?«
»Daß ich
in die Luft fliege, wenn ich aufstehe.« »Das ist alles?«
»Ob das alles ist?
Mann, das ist endgültig, das ist alles, was es noch gibt, sonst nichts mehr.«
»Aha,
und glauben Sie ihr?« fragte Chris.
»Du Arschloch, erwartest du etwa, daß
ich aufstehe und es ausprobiere?«
Chris trug einen beigen Tweedmantel, einen alten mit ausgebeulten Taschen. Er holte eine Mini-Mag-Taschenlampe aus der linken Seitentasche, legte sich flach auf den Boden und richtete den Lichtstrahl auf den zehn Zentimeter tiefen Raum zwischen Sessel und Boden. Da war nichts. Er richtete sich auf die Knie auf, legte die Taschenlampe auf den Boden, holte ein rostfreies Spider-Co-Taschenmesser aus der rechten Seitentasche und klappte die kurze Klinge mit einer schnellen, geübten Bewegung der rechten Hand auf.
»He«, sagte Booker und grub sich tiefer in den Sessel.
»Legen Sie sich
was über«, sagte Chrls. »Ich will Ihnen nicht aus Versehen was abschneiden.«
»Mann,
passen Sie ja auf«, sagte Booker und nahm die Arme von den Sessellehnen, um
den Bademantel zwischen seinen nackten Beinen bis zum Zwickel zusammenzuraffen.
»Fühlen
Sie irgendwas unter sich?«
»Als ich mich setzte, fühlte es sich... naja,
anders an.« Chris schlitzte den Polster des Sessels auf, zog die Ecken auseinander
und sah hinein. »Hmmmmm«, sagte er.
»Was meinen Sie, hmmmmm«, sagte Booker.
»Sparen Sie sich Ihr Hmmmmmm. Verdammt, was ist da drin?«
Chris sah zu Booker
auf. »Zehn Stangen Dynamit«, sagte er.
Booker umklammerte wieder die Lehnen,
und sein Oberkörper ruckte steif hoch. »Holen Sie die Scheiße da 'raus, Mann«,
sagte er zu Chris, »holen Sie sie 'raus, holen Sie sie 'raus!«
»Irgend jemand
mag Sie nicht, Booker«, sagte Chris. »Zwei Stangen hätten vollauf gereicht.«
»Holen
Sie diese Scheiße jetzt endlich 'raus?« sagte Booker. »Machen Sie schon.«
Chris kauerte sich auf die Fersen und sah zu Booker hoch. »Ich fürchte, wir haben da ein Problem.«
»Was für ein Problem? Wovon reden Sie?« »Naja, der größte Teil der Schaumfüllung
wurde her-ausgenommen. Und jetzt liegt etwas auf dem Dynamit, das ganz nach
einer ziemlich dünnen, leicht brennbaren Gummifolie aussieht.«
»Nun ziehen
Sie die Scheiße doch 'raus, Mann. Kapieren Sie nicht? Sie sollen sie rausziehen!«
»Ja,
aber ich sehe den Zünder nicht. Er muß im hinteren Teil sein, da, wo man den
Reißverschluß des Kissens öffnen kann.«
»Dann öffnen Sie das verdammte Ding.«
»Das
kann ich nicht, Sie sitzen darauf. Es ist wahrscheinlich ein beidseitig funktionierender
Druckzünder oder so. Ich kann‘s nicht genau sagen, aber ich vermute es.«
»Sie
vermuten es?« sagte Booker. »Sie meinen, Sie wis-sen nicht genau, was Sie zu
tun haben. «
»Es gibt alle möglichen Arten von Zündern«, sagte Chris. »Ich
muß ihn sehen, erst dann kann ich sagen, was für einer es ist... und ob ich
ihn entschärfen kann oder nicht. Verstehen Sie?«
»Jetzt warten Sie mal. Haben
Sie gesagt, ob Sie ihn entschärfen können?«
»Und ich komme nur an ihn 'ran«,
sagte Chris, »wenn ich die Lehne des Sessels aufschneide.«
»Dann schneiden
Sie sie gefälligst auf! Der Sessel ist mir scheißegal.
»Tja, wenn wir die
Lehne aufschneiden.., all diese schwere Holzwolle und die Federn... « Chris
hielt inne. »Ich weiß nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf.
»Hören Sie,
Sie Arschloch«, sagte Booker. »Holen Sie diese Scheiße unter mir weg. Schneiden
Sie den Sessel auf, machen Sie, was Sie wollen, aber holen Sie sie unter mir
weg.«
»Andererseits«, sagte Chris, »ist es vielleicht gar keine Bombe. Vielleicht
ist nur Dynamit da drinnen. Verstehen Sie, um Ihnen Angst zu machen, damit Sie
nicht aus der Reihe tanzen. Ich meine, hätte irgendwer einen Grund, Sie umzubringen?«
»Sie
meinen, die haben das bloß da reingestopft, wollen mich aber gar nicht wirklich
in die Luft jagen?«
»Ja.«
»Nur, um mir zu zeigen, was passieren könnte?«
»Vielleicht.
«
»Sie meinen, ich könnte einfach aufstehen, und das, was sie am Telefon
zu mir gesagt hat, war nur Quatsch?«
»Wäre möglich«, sagte Chris, »aber ich
würde das Risiko nicht eingehen.«
»Ach, würden Sie nicht?«
»Mal sehen,
was mein Partner davon hält, wenn er kommt.«
»Mann«, sagte Booker, »ich muß dringend aufs Klo.« - Elmore Leonard, Freaky Deaky. München 1989 (zuerst
1988)
Harndrang (2) Ich hörte Caracas'
Stimme zum ersten und letzten Mal an einem Abend, den Gogol und ich in
trauter Zweisamkeit in jenem Zimmer verbrachten, in dem sie »lebte«; ein streng
gehüteter Raum in orientalischem Geschmack, fensterlos, im unzugänglichsten
Teil des Hauses gelegen. Ich wußte zwar, daß sie sprechen konnte, doch hatte
mir Gogol die Bedingungen, unter denen sie es tat, bis dahin verheimlicht. Nikolaj
Wassiljewitsch und ich unterhielten uns an jenem Abend bei einem Glas Wodka
über Butkows Roman; ich weiß noch, wie er, vom Thema abgekommen, sich über die
Notwendigkeit einer strengen Reform des Erbfolgerechts erging; wir hatten ihre
Anwesenheit beinah vergessen. Da erklang plötzlich, aus der Stille auftauchend,
dunkel und dumpf ihre Stimme, als wäre sie Venus im
Stier: - Ich will aufs Töpfchen
-. Ich fuhr zusammen, wollte meinen Ohren nicht trauen und wandte mich nach
ihr um: sie saß auf einem Kissenhaufen mit dem Rücken zur Wand und war an diesem
Abend eine zarte, strahlend schöne Blondine mit eher vollen Formen. In ihren
Zügen glaubte ich nun Boshaftigkeit, Hinterlist und kindischen Spott zu lesen.
Gogol aber errötete heftig, warf sich auf sie und griff mit zwei Fingern in
ihren Mund; da begann sie abzunehmen, schien sogar zu erblassen und blickte
nun wieder so unschuldig und hilflos wie immer. Schließlich war sie nur noch
ein Bündel schlaffer Haut über einem summarischen Knochengestell. Ihr Rückgrat,
das (aus leicht zu erratenden Gründen, die ihrem Besitzer zum Vorteil gereichten)
außerordentlich biegsam war, knickte ein; sie glitt auf den Fußboden und lag
dort für den Rest des Abends wie eine Verworfene, ihren stummen Blick auf uns
geheftet. - Sie tut es zum Spaß oder aus Boshaftigkeit -, brummte Gogol zur
Erklärung, - in Wirklichkeit hat sie keine solchen Bedürfnisse —. - Tommaso Landolfi, Gogols
Gattin. In: Künstliche
Menschen. Hg. Klaus Völker. Frankfurt am Main 1994 (st 2293)
Harndrang (3) Er wußte nicht, wie er die Unterhaltung anknüpfen sollte, denn sie weinte. Es war schwierig, das Gespräch ohne Übergang auf die Wohnung zu bringen. Andererseits befürchtete er, daß sie sich beim Verlassen des Krankenhauses verabschieden würde, bevor er auch nur einen Entschluß gefaßt hatte. Seine Verwirrung wurde noch größer, als er plötzlich das Bedürfnis verspürte, austreten zu müssen, was ihm schlagartig jeden zusammenhängenden Gedanken unmöglich machte. Er bemühte sich, langsam zu gehen, obwohl er das wahnsinnige Verlangen hatte, auf dem kürzesten Weg zur nächsten Bedürfnisanstalt zu rennen. Mutig legte er los:
»Sie dürfen sich nicht der Verzweiflung überlassen. Gehen wir etwas trinken, wenn es Ihnen recht ist. Ich glaube, ein Gläschen wird Sie wieder auf die Beine bringen.«
Er biß sich die Lippen blutig, um seinen Drang anzuhalten, der immer ungeheurer wurde.
Sie versuchte zu sprechen, aber ein Schluchzen nahm ihr das Wort. Sie beschränkte sich deshalb darauf, mit einem Kopfnicken, mit einem armseligen Lächeln ihr Einverständnis anzudeuten.
Trelkovsky schwitzte jetzt dicke Schweißperlen. Wie ein Dolch stach der Druck auf der Blase. Sie hatten das Krankenhaus verlassen. Genau gegenüber befand sich ein großes Café.
»Gehen wir dort drüben hin?« legte er mit schlecht gespielter Gleichgültigkeit nahe.
»Wie Sie wollen.«
Er wartete, bis sie Platz genommen und etwas bestellt hatten, und sagte dann:
»Entschuldigen Sie mich bitte zwei Minuten. Ein kurzes Telefonat.«
Als er zurückkam, war er ein anderer Mensch. Er hätte gleichzeitig lachen und singen mögen. Erst als er Stellas tränenfeuchtes Gesicht vor sich sah, dachte er daran, eine entsprechende Miene aufzusetzen.
Wortlos schlürften sie ihre Getränke, die ihnen der Kellner gebracht hatte.
Stella beruhigte sich allmählich. Er beobachtete sie und lauerte auf den psychologisch
günstigen Augenblick, um von der Wohnung sprechen zu können. Wieder blickte
er auf ihre Brüste, und er ahnte, daß er mit ihr schlafen
würde. Daraus schöpfte er die Kraft, das Wort an sie zu richten. -
Roland Topor, Der Mieter. Zürich 1976 (detebe 20358, zuerst 1964)
Harndrang (4) Ich mußte mal hinaus
und die Toilette war draußen im Korridor. Gewöhnlich gelingt es mir, wenn es
sein muß, den Drang zu überwinden, aber diesmal war er zu stark. Ich stand von
dem Klappbett auf und schlich langsam zur Küchentür, die nach draußen führte.
Ich war erst zwei Schritte gegangen, als mich etwas aufhielt. Lieber Freund,
ich kenne alle Antworten darauf und das ganze psychologische Gewäsch dazu, aber
das Ding da vor mir war eine Gestalt und sie verstellte mir den Weg. Ich war
zu erschrocken, um zu schreien. Es liegt mir nicht, zu schreien. Selbst in Todesgefahr
würde ich nicht schreien. Nun, und wer hätte mir schon geholfen, wenn ich geschrien
hätte? Die beiden halbverrückten Schwestern? Ich versuchte, die Gestalt wegzuschieben
und berührte etwas, das Gummi, Teig, oder irgendeine Art von Schaum hätte sein
können. Es gibt Ängste, vor denen man nicht davonlaufen kann. Zwischen uns kam
es zu einem wilden Kampf. Ich stieß ihn zurück und er wich etwas aus, leistete
aber Widerstand. Ich erinnere mich jetzt, daß ich vor dem bösen Geist weniger
Angst hatte als vor dem Geschrei, das die Schwestern ausstoßen könnten. Ich
kann Ihnen nicht sagen, wie lang dieser Kampf gedauert hat - eine Minute oder
vielleicht auch nur ein paar Sekunden. Ich hatte das Gefühl, jeden Augenblick
ohnmächtig zu werden, aber ich stand dort und rang schweigend und hartnäckig
mit einem Phantom, oder was immer es sein mochte. Statt daß mir kalt war, wurde
mir heiß. Innerhalb einer Sekunde war ich so naß, als ob ich unter der Dusche
gestanden hätte. Warum die Schwestern nicht zu schreien anfingen, ist etwas,
das ich nie begreifen werde. Daß sie wach waren, dessen bin ich ganz sicher.
Offenbar waren sie von ihrer eigenen Furcht gelähmt. Plötzlich traf mich ein
Schlag. Der Böse verschwand und ich fühlte, daß auch mein Glied nicht mehr da
war. Hatte er mich kastriert? Die Hose meines Schlafanzuges war zu Boden gefallen.
Ich fühlte nach meinem Penis. Nein, er hatte ihn nicht
herausgerissen, sondern so tief in mich hineingestoßen, daß er nur noch eine
Vertiefung statt einer Erhöhung bildete. - Isaac Bashevis Singer, Die
Geschichte zweier Schwestern. In: I.B.S., Leidenschaften.
Geschichten aus der neuen und der alten Welt. München 1993. (zuerst 1975)
Harndrang (5) Ich war spätabends in mein Hotelzimmer zurückgekehrt und hatte mich bereits halb entkleidet, als ich auf die Toilette mußte.
Mein Zimmer befand sich beinahe am Ende .eines langen, schlecht beleuchteten Korridors; ungefähr alle zwanzig Meter warfen schwache, violette Lampen Lichtstreifen auf den roten Teppich. Genau in der Mitte des Korridors brannte ebenfalls eine solche Lampe; rechts von ihr befand sich die Treppe, links die verglaste Doppeltür der gewissen Örtlichkeit.
Ich zog meinen Schlafrock an und trat auf den leeren Korridor hinaus. Ich hatte die Toilette beinahe erreicht, als ich plötzlich einem Mann gegenüberstand, der ebenfalls einen Schlafrock trug und aus der entgegengesetzten Richtung kam. Er war groß und dick und hatte einen rundgestutzten Bart à la Edward VII. Hatte er das gleiche Ziel wie ich? Wir zögerten beide einen Augenblick lang verlegen, denn wir wären beinahe zusammengestoßen. Ich weiß nicht warum, aber es war mir peinlich, das WC vor seinen Augen zu betreten, und deshalb ging ich einfach weiter. Er tat das gleiche.
Nach einigen Schritten wurde mir natürlich klar, daß ich mich dumm verhalten hatte. Was sollte ich jetzt tun? Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder ich ging bis ans Ende des Korridors und machte dann kehrt; wenn ich Glück hatte, war der Herr mit dem Bart inzwischen verschwunden. Aber nirgends stand geschrieben, daß der Fremde sein Zimmer wieder aufgesucht und somit das Feld geräumt hatte; vielleicht war auch er zur Toilette unterwegs gewesen und hatte die gleichen Hemmungen gehabt wie ich; dann befand er sich jetzt auch in der gleichen peinlichen Lage wie ich. Wenn ich also zurückging, lief ich Gefahr, ihm wieder zu begegnen und noch dümmer dazustehen.
Oder - die zweite Möglichkeit - ich versteckte mich in einer genügend tiefen, schlecht beleuchteten Türnische und beobachtete von dort aus den Korridor, bis ich sicher war, daß er frei war. Ohne lange zu überlegen, setzte ich diesen Gedanken in die Tat um.
Erst als ich mich wie ein Dieb in eine der engen Nischen gedrückt hatte (es war die Tür zum Zimmer Nummer 90), dachte ich nach. Vor allem: Falls das Zimmer belegt war und der Gast heimkehrte oder es verließ - was würde er denken, wenn er mich vor seiner Tür fand? Noch schlimmer: Vielleicht handelte es sich ausgerechnet um das Zimmer des Herrn mit dem Bart. Wenn er zurückkam, saß ich unweigerlich in der Falle. Auch wenn er nicht von Natur aus argwöhnisch war, würde er mein Verhalten reichlich seltsam finden. Kurz, es wäre äußerst unvorsichtig, länger hierzubleiben.
Langsam streckte ich den Kopf vor und musterte den Korridor. Er war von einem Ende bis zum anderen vollkommen leer. Kein Geräusch, keine Schritte, keine menschliche Stimme, kein Knarren einer aufgehenden Tür. Der Augenblick war günstig: Ich verließ mein Versteck und begab mich lässig zu meinem Zimmer. Unterwegs wollte ich einen kurzen Abstecher in die Toilette machen.
Wie ich zu spät bemerkte, hatte der Herr mit Bart,
der offenbar die gleichen Überlegungen angestellt hatte wie ich, ebenfalls eine
Türnische im Hintergrund verlassen, vielleicht sogar die zu meinem Zimmer, und
kam mir entgegen. - Dino Buzzati, Die Maschine des Aldo Christofari. Frankfurt
am Main 1985
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