Dand im Spiel   In der Zeit, in der der Genosse Andropow, der stets in seiner Gesundheit gefährdet, deshalb unbeweglich und nicht reisefreudig war, den KGB führte und sich auf die Stellung des Generalsekretärs der Partei vorbereitete, gab es in einer der Hauptabteilungen des russischen Geheimdienstes den kirgisischen Obristen Lermontow, zu dessen Ahnen heidnische Priester (sibirische Animisten) zählten. Er legte während der Dienststunden (in einer so riesigen, weltweit organisierten Behörde rinnen gewaltige Zeitmengen, sie rinnen langsamer als irgendwo sonst in der Welt vor den Fenstern des hochragenden Betonhauses dahin) eine Sammlung historischer Skizzen an. Eine Reihe dieser Skizzen befaßten sich mit der »Lähmung im entscheidenden Moment«. Es ist eine seltsame Tatsache, daß die großen Täter der Weltgeschichte oft eine Lähmung ergreift, und zwar in entscheidenden Momenten. Es wäre doktrinär zu sagen, sagt Lermontow, daß es keine Götter gibt. Offenbar treten sie als Bestärkung oder als Lähmung in Erscheinung. Wollen Sie, fragte Lermontow zuhörende Genossen, ernsthaft eine Erkältung dafür verantwortlich machen, daß Napoleon in Waterloo nicht die Umfassungsschlacht schlägt, die ihm die Generale anraten und die den sicheren Erfolg garantiert? Wollen Sie die Fehlleistung aus einer Erkältung erklären?

Nein, aus dem Unglauben des Kaisers an die eigene Mission, antwortet einer der gelehrten geheimdienstlichen Assistenten, der sich täglich bildete (sie alle bildeten sich in diesen Jahren für die Perestroika, deren Kommen sie ahnten, ohne daß irgendeiner wußte, welche Bezeichnung die neue Freiheit haben würde).

Das bestreite ich, erwiderte Lermontow. Die Gottheit, die ihn lähmt, ist dieselbe, die als Blitz zwischen die Trojaner und die Griechen fuhr, Athene, die die Sinne aller verwirrte. Sie lähmte die Einsicht des Trojaners, der seinen Pfeil auf Menelaos abschoß; und sie lähmte den Flug jenes Pfeiles, so daß er den Griechen nur leicht verwundete. Der göttliche Eingriff reichte aus, um den kurzen Frieden zwischen Trojanern und den Griechen zugrunde zu richten. So gezielt vermögen nur die Götter zu agieren, die in den alltäglichen Kausalnexus des Lebens eindringen und dort ihre Verheerung anrichten. Wenn Sie so etwas auf Schnupfenviren oder mangelnden Nachtschlaf zurückführen, erscheint mir das doktrinär.*

Das sagen Sie als Materialist?

Genau das sage ich, antwortete Lermontow. Ein Materialist ist nie doktrinär. Er schließt ohne Grund keine Krafteinwirkung in der Welt als unmöglich aus. Vor allem dann nicht, wenn sie sich unserer Beobachtung öffnet. Nehmen Sie die eigentümliche Lähmung Hitlers, seine Blendung (im Moment des Fiaskos der Front vor Moskau). Tm Dezember 1941: »wie schneeblind«. Er erklärt den USA den Krieg. Das müßte er nach den Verträgen nicht. Er besiegelt das Ende des Deutschen Reichs. Wie wollen Sie so etwas erklären? Wenn nicht Götter die Hand führen ? Genauso die Lähmung Robespierres im Moment des Thermidors. Ebenso die merkwürdige »Erkältung« Trotzkis in der Krise vor Lenins Tod. Warum fährt er im entscheidenden Moment in den Kaukasus? Es kostet ihn die Macht. Ich habe liier eine Sammlung von 12. ooo markanten Beispielen. Wollen Sie das in den Wind schlagen?

Ich wundere mich sehr, antwortete der Vorgesetzte von Lermontow, der zu der Runde hinzugekommen war. Womit beschäftigen Sie sich, Genosse? Das damals intakte Imperium verfügte über alle Zeitreserven Sibiriens. Und damit über Gedankenreserven. Ein Panzerschrank des Seelenlebens. In den Bunkern des KGB sammelten sich akademische Eliten des Landes in lebhafter Wechselwirkung zu den Eliten der Akademie der Wissenschaften, die in privilegierten Zentren an den Flüssen Sibiriens ihre Sitze errichtet hatten.**

An diese Sammlung Lermontows wurde ich (letzter Assistent Gorbatschows) erinnert, als ich die Lähmung des Präsidenten beobachtete. Sie brach aus nach der Rückkehr von der Konferenz in Madrid. Wir gingen dort betteln. Nie wieder war er der, der er gewesen war. Ein launischer, mittelmeerischer Gott aus alter Zeit, der seitlich von Athene Troja zugrunde richten half, war in ihn gedrungen (wie es Viren, Insektenstiche, Gifte, schwere Enttäuschungen vermögen). So saß er in seiner Kammer, tatenlos. Während die »Buschräuber von Minsk« ihr Komplott schmiedeten, das Gemeinwesen enteigneten. Hätte er sie verhaften sollen als Hochverräter? Er besaß die Vollmacht. Oberst Lermontow trugen wir kurz nach der Havarie von Tschernobyl zu Grabe. Er hatte sich, »von allen Göttern verlassen«, erschossen.

* Lermontow bezieht sich auf folgenden Vorfall: Nach vergeblicher Belagerung Trojas haben Griechen und Trojaner einen Waffenstillstand geschlossen. Dies geschah auf Ratschlag der Mehrheit der Götter. Helena soll an ihren Gatten Menelaos herausgegeben werden. Da aber sabotiert eine Untergöttin, nämlich Athene, diesen Friedensschluß. Sie gibt durch göttlichen Druck einem Gefolgsmann des Paris (derzeitigem »Besitzer« der Helena) den Willen ein, Menelaos durch Pfeilschuß zu töten. Sie mildert diesen göttlichen Einfluß (so daß Menelaos nur verletzt wird), weil der tückische Pfeil bereits als ZEICHEN ausreicht, den Waffenstillstand zu zerstören.

** Akademgorodok bei Nowosibirsk umfaßt 60000 Planstellen. Der hoch subventionierte Wissenschaftsort ist global mit den Netzen der internationalen Forschung verbunden; in Akademgorodok selbst gibt es keine äußerliche Ablenkung. Gerade, daß im Winter ein drei Meter hoher Hügel die Schlittenfahrt zuläßt. Eine Wanderung nach Norden, Osten, Westen oder Süden hätte kein benennbares Ziel. Im Herbst Nebelwände, im Winter Schneestarre. Im Sommer Mangel an Kühlung, keine Zwischenjahreszeiten. Wie die Kargheit eines mittelalterlichen Klosters umgibt den Denkenden eine pure Reserve an Lebenszeit.

- (klu)

Hand Spiel

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