Halbverrückt  Obwohl ich so weit draußen wohnte, blieb ich nicht von den jährlichen Besuchen verschont, die, wenn ich mich nicht irre, am ersten April stattfinden, wo jedermann auf den Beinen ist; im allgemeinen hatte ich dabei allerdings oft Glück, wiewohl sich merkwürdige Exemplare unter meinen Gästen befanden. Halbverrückte Leute aus den Armenhäusern und sonstwoher kamen, mich zu besuchen. Ich ließ sie all den Verstand, den sie noch hatten, anwenden und mir beichten; in diesen Fällen war der Verstand das Gesprächsthema, und so ward ich belohnt. Ich entdeckte sogar, daß manche von ihnen vernünftiger waren als die sogenannten Armenaufseher und Stadträte, und hielt es an der Zeit, daß das Blättchen sich wende. Was den Verstand anbelangt, so fand ich, daß kein großer Unterschied zwischen denen, die ihn halb, und jenen, die ihn ganz besaßen, bestand. Unter andern besuchte mich einmal ein harmloser, einfältiger Armenhäusler, den ich oft als lebendigen Zaunpfahl im Feld gesehen hatte, wo er auf einem Scheffelmaß saß oder stand, um achtzugeben, daß er und die Kühe sich nicht verliefen. Er sprach den Wunsch aus, so leben zu können wie ich. Er erzählte mir mit der größten Einfachheit und Aufrichtigkeit, die erhaben über, oder vielmehr: unter allem war, was man Demut nennt, daß es ihm am Verstand fehle. So drückte er sich buchstäblich aus. Der Herr habe ihn so geschaffen, doch glaube er, daß der Herr so gut für ihn sorge wie für jemand andern. »Ich war immer so«, erzählte er, »von Kindheit an; ich bin schwach im Kopf. Es wird wohl der Wille des Herrn gewesen sein.« Und da saß er nun, die Wahrheit seiner Worte zu bestätigen. Er war für mich ein metaphysisches Rätsel. Selten traf ich einen Mitmenschen mit so vielversprechenden Anlagen; alles, was er sagte, war so einfach, offen und wahr. Und wahrhaftig, in dem Maße, in dem er sich zu erniedrigen schien, wurde er erhöht. Erst wußte Ich nicht, ob nicht alles das Resultat einer weisen Politik war. Dann aber erkannte ich, daß von einer solchen Basis von Wahrheit und Offenheit aus, wie sie der schwachsinnige Bettler gelegt hatte, unsere Unterhaltung sich zu etwas Besserem entwickeln müßte als das Gespräch der Weisen.   - Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Zürich 1979 (zuerst 1854)
 
 

Verrückt

 

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