albschlaf   Mein Arbeitszimmer lag nach einer engen Seitengasse und hatte während des Tages kein Licht. Für den Chemiker, der die Tagesstunden im Laboratorium verbringt, war dies kein Nachtheil. Da sass ich und schrieb an meinem Lehrbuch; aber es ging nicht recht; mein Geist war bei anderen Dingen. Ich drehte den Stuhl nach dem Kamin und versank in Halbschlaf. Wieder gaukelten die Atome vor meinen Augen. Kleinere Gruppen hielten sich diesmal bescheiden im Hintergrund. Mein geistiges Auge, durch wiederholte Gesichte ähnlicher Art geschärft, unterschied jetzt grössere Gebilde von mannigfacher Gestaltung. Lange Reihen, vielfach dichter zusammengefügt; Alles in Bewegung, schlangenartig sich windend und drehend. Und siehe, was war das? Eine der Schlangen erfasste den eigenen Schwanz und höhnisch wirbelte das Gebilde vor meinen Augen. Wie durch einen Blitzstrahl erwachte ich; auch diesmal verbrachte ich den Rest der Nacht um die Consequenzen der Hypothese auszuarbeiten. - August Kekulé

Halbschlaf (2)  

Halbschlaf (3)  Und doch scheint es so zu sein, daß du gegangen bist und dabei irgendwas gesagt hast, daß du dich in die Seine stürzen wolltest, etwas in dem Stil, eine dieser Redensarten mitten in der Nacht, vermengt mit Bettlaken und teigigem Mund, fast immer aus dem Dunkeln oder mit Hand oder Fuß den Körper dessen streifend, der kaum zuhört, weil ich dich längst schon kaum noch höre, wenn du solche Dinge sagst, das kommt von der anderen Seite meiner geschlossenen Augen, vom Schlaf, der mich abermals nach unten zieht. Also gut, was kümmert es mich, ob du fort bist, dich ertränkt hast oder noch auf den Kais entlanggehst und in das Wasser starrst, was außerdem nicht sicher ist, denn hier liegst du doch und schläfst stoßweise atmend, warst also gar nicht weg, als du in irgendeinem Augenblick der Nacht davongegangen bist, bevor ich mich in den Schlaf verlor, weil du im Gehen irgend etwas sagtest wie, du würdest dich in der Seine ertränken, du Angst gehabt, aufgegeben hast und plötzlich hier bist, mich beinah berührend, und dich so wellenförmig bewegst, als ob etwas in deinem Schlafe ganz sanft arbeitete, du tatsächlich träumtest, daß du hinausgegangen und zu guter Letzt zu den Kais gelangt bist und dich ins Wasser geworfen hast. So zum wiederholten Male, um danach, das Gesicht durchtränkt von einem stupiden Weinen, bis elf Uhr vormittags zu schlafen, der Stunde, wo sie die Tageszeitung mit den Nachrichten über die bringen, welche sich im Ernst ertränkt haben.  - Julio Cortázar, Die Nacht auf dem Rücken. Die Erzählungen Bd. 1. Frankfurt am Main 1998

Halbschlaf (3)  Es schien mir im Halbschlaf, doch schon nach dem Erwachen, daß mein Körper nicht einheitlich sei, daß manche Teile noch knabenhaft seien, und daß mein Kopf die Wade verspotte und verhöhne, die Wade ihrerseits den Kopf, daß der Finger sich über das Herz lustig mache, das Herz über das Hirn, die Nase über das Auge, das Auge über die Nase meckere und zetere - und all diese Teile vergewaltigten einander wild in einer Atmosphäre allumfassenden und durchdringenden, allgemeinen Hohnes. Und als ich mein Bewußtsein völlig wiedererlangt hatte und über mein Leben nachzudenken begann, verminderte sich meine Angst nicht um ein Jota, sondern wurde noch mächtiger, obwohl sie zeitweilig von einem kleinen Lachen unterbrochen (oder verstärkt) wurde, dessen der Mund sich nicht erwehren konnte. Auf der Hälfte meines Lebensweges fand ich mich inmitten eines finsteren Waldes. Und dieser Wald war - was noch schlimmer ist - grün.   - (fer)

Halbschlaf (4) Aber interessant. Er hat nicht nur das Kuvert beim Aufwachen noch in der Hand gehabt, sondern er hat auch den Gedanken, dass er hier auf keinen Fall einschlafen darf, immer noch im Hirn gehabt. Und dieser Gedanke ist der beste Beweis dafür, dass das wache Gehirn oft gar nicht am besten denkt. Weil dass er hier auf keinen Fall einschlafen darf, diesen Rat hätte ihm auch jeder blutige Laie geben können, quasi schwerer Fehler, und man darf nie am Ort der Übergabe einschlafen, wo die Gangster vielleicht früher auftauchen und den Brenner umbringen. Aber du darfst eines nicht vergessen. Genau das war die große Stärke vorn Brenner. Der detektivische Halbschlaf. Weil er hat natürlich nicht tief geschlafen, nur halb geschlafen. Und mit der anderen Hälfte hat er das Haus und seinen eigenen Schlaf bewacht.

Jetzt musst du wissen, die besten Gedanken in seinem Leben sind dem Brenner noch immer im Halbschlaf gekommen. Das ist überhaupt ein großer Irrtum der Menschen, dass sie glauben, je wacher, je konzentrierter, je aus-geschlafener, umso besser für den Kopf. Weil genau so wie das zu helle Licht für die Augen schädlich ist, ist auch das zu wache Hirn gar nicht gut für die Gedanken. Und in Wahrheit ist ein Halbschlafender einem Wachen immer haushoch überlegen, gar keine Diskussion. Dem Wachen stehen ja beim Denken viel zu viele Gedanken im Weg herum, dem Schlafenden aber flüstert es der liebe Gott direkt ins Hirn. Nur ganz schlafen darfst du eben nicht, sonst hörst du ihn womöglich nicht.  - Wolf Haas, Der Brenner und der liebe Gott. Hamburg 2009

Halbschlaf (5) Ich döste, versuchte zu schlafen, wachte schwitzend auf, das ganze Gesicht war naß vor Schweiß, also Tür öffnen, erneute Versuche zu schlafen, lang ausgestreckt auf den Polstern, vor schwitzender Erschöpfung wurde ich ganz kindisch ab und zu, trieb wieder ab in verworrene halbe Labyrinthe und wurde zurückgespült in undurchschaubare Vergangenheit: Buchenblätter, vor Trockenheit in sich gekrümmt, huschten über roten Fliesen mit winzigem Schaben, ich hob das angefaulte Holzrost hoch, zwei platte Asseln mit langen einzelnen Haaren, flitzten weg, und ich machte mich klein und eng und kroch in den Keller, weißes Keimen der Kartoffeln im Dunkeln, irgendwie winkte ich auch einem vorbeidampfenden Güterzug nach und stand vor schwarz-verkohlter brandiger Böschung, da waren die kleinen verkohlten Äste, und wenn ich sie anfaßte, war nur schwarzer Staub auf den Fingern von der kleinen geringelten Ast- oder Zweigform von eben, Hunderte von winzigsten Eindrücken, durch die ich mich bewegte, aber war ich das noch, der sich da im schwitzenden, schweißigen Halbschlaf bewegte?   - (rom)

Halbschlaf (6) Ganz plötzlich schien es ihm, als könne er an nichts anderes mehr denken als an jene völlig unbekannte Persönlichkeit — offenbar die des Priesters des Ortes —, die von Mr. Urquhart so verächtlich als Tilly-Valley bezeichnet worden war. Während die Silben „Tilly-Valley" sich in seinem Hirn wiederholten, hörte die hinter jener seltsamen Bezeichnung verborgene Person auf, ein Mensch zu sein. Sie wurde zu einem merkwürdig geformten dahintreibenden Gegenstand, der nicht in Worte gebracht werden konnte und doch von äußerster Wichtigkeit war. Was von Wichtigkeit war, war eben dies, daß eine hartnäckige Krümmung in diesem dahintreibenden Gegenstand geradegestreckt werden sollte. Irgend etwas hinderte ihn daran, geradegestreckt zu werden» etwas, das von einer schwarzen Perücke und einem Wollschal ausströmte und außerordentlich dick und schwer war und einen Geschmack hatte wie Portwein.

Aber da war noch ein anderes Ding, weit drunten, weit entfernt, bedeckt gewissermaßen mit Massen welker Blätter, ein Ding, das sich bewegte, sich aufwickelte, sich erhob, ein Ding, das ihm in der nächsten Minute grenzenlose Sicherheit und Kraft verleihen würde. Wenn es zur Oberfläche emportauchte, würde der gekrümmte Zweig sich geradestrecken lassen — und alles würde gut sein! Dies „Gutsein" schloß in sich, daß jene ruhige friedliche Kuh, die unter dem Kirchturm von Basingstoke Wegerichblätter gefressen hatte, zu fressen aufhören und sich niederlegen würde. Die Kuh, die sich niederlegte, würde ein hübscher grüner Hügel sein, bedeckt mit Wegerich — mit Wegerich, der höher und höher wuchs, bis enorme, saftstrotzende Blätter daraus wurden, so groß wie Elefantenohren; aber die Kuh konnte sich nicht ganz niederlegen, etwas Dickes und Schweres und wie Portwein Klebriges hemmte ihre Bewegungen.

Alles in der Welt war jetzt materiell. Gedanken waren materiell. Gefühle waren materiell. Es war eine Welt materieller Objekte, von denen eines sein Geist war. Sein Geist war ein kleines, bläulich gefärbtes Ding, weich, flaumig, gleich blauer Baumwoüe; was sich aus den welken Blättern erhob, war auch blau, aber das zähe, hemmende Ding war braun, und der gekrümmte Zweig war braun ...

Es war, als müsse seine Seele bei diesem langsamen Einschlafen alle die langen einstigen evolutionären Stadien des Planetenlebens passieren und bewußt sein mit dem Bewußtsein pflanzlicher Dinge und Mineralien. Und eben dies verlieh jeder materiellen Substanz für ihn so erhabene Wichtigkeit — eine Wichtigkeit, die materielle Substanzen vielleicht wirklich besitzen, wenn man sie nur alle kennte.  - John Cowper Powys, Wolf Solent. Wien u. Hamburg 1986 (zuerst 1929)

 

Schlaf

 

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