reis  Die Alten sind zu nichts nütze. - (vauv)

Greis (2) Wie ich höre, war das achtzehnte Jahrhundert bekannt für das Alter und die Dunkelheit der dichtbelaubten, schattenspendenden Maulbeer- und Feigenbäume, und es ist ja möglich, daß es diesem Jahrhundert auch gelang, seinen Uralten eine schläfrige Überfülle an Zeit zu vermitteln. Aber es hat auch schon früher eine solche schattenhafte alte Person gegeben, Thomas Parr mit Namen, den, wie ich glaube, Rubens gemalt hat, als er hundertvierzig Jahre alt war, und dessen Alter und Tüchtigkeit von John Taylor, dem Wasser-Poeten, in Versen gefeiert wurden. Er starb am 15. November 1635 im Alter von hundertzweiundfünfzig. Trotz der unangemessenen Munterkeit seiner letzten Jahre, wurde er in der Westminster Abtei beigesetzt.

Mr. Parr heiratete mit achtzig zum ersten Mal; und von da an wurde das Heiraten ihm zur Gewohnheit. Dennoch gab es eine Gelegenheit, wo er — zweifellos aufgrund eines Versehens öffentlich Buße tun mußte, weil er mit einhundertundfünf Jahren diese Zeremonie umgangen hatte. Diese geisterhafte Antiquität, die wie der Mond im Tageslicht des Sommers dahinschwand, mußte bei dieser Gelegenheit, in ein weißes Laken gehüllt, vor der Kirchentür stehen. Aber ich fürchte, das alte Klappergerüst von Kavalier sonnte sich sogar in diesem Sündenfall, und sicherlich prahlte er damit vor König Karl I.

Später heiratete er noch einmal, diesmal im Alter von einhundertzwanzig Jahren, und seine Frau, deren Mädchenname Catherine Milton lautete, schenkte ihm ein Kind. Zu dieser Zeit seines Lebens »war er mit Dreschen und anderen hausväterlichen Arbeiten beschäftigt«, und sein Porträt zeigt den recht noblen vom Wind zerzausten Kopf und Bart eines Jupiter des Waldes, schrundig und braun wie der Stamm eines Feigenbaums. - Aus: Edith Sitwell, Englische Exzentriker. Berlin 2000 (Wagenbach Salto 93, orig, 1933)

Greis (3) Der fast zu hundert Jahren gekommene Fontenelle verlor im Neunzigsten nach und nach Gesicht und Gehör, und in seinen letzten Augenblicken äußerte er auf die Frage, ob er viel leide: "Je ne sens qu'une difficulté: d'être." Aber er blieb galant bis ans Ende. Er tändelte mit einem Mädchen, sie drohte zu schreien, und er äußerte:

Bien, criez, plus haut! rien de mieux
cela fera honneur à tous deux.

- (kjw)

Greis (4) Greise geben gern gute Weisungen, weil sie nicht mehr imstande sind, böses Beispiel zu geben. - (lar)

Greis (5) Dem siechen Greisenalter ziemt Einsamkeit. Ich bin gesellig bis zum Übermaß. Dennoch dünkt es mich billig, daß ich fortan der Welt den Anblick meiner Sauertöpfigkeit erspare und ihr still für mich nachhänge, daß ich mich in mein Gehäuse verkrieche und in mich kehre wie die Schildkröten. Ich lerne, die Menschen zu sehen, ohne mich an sie zu hängen: das wäre ein Hohn bei meinem strauchelnden Gange. Es ist Zeit, der Geselligkeit den Rücken zu wenden. - (mon)

Greis (6) Diese Mummelgreise hatten noch ein, zwei Jährchen zu leben, sie hatten auf Erden das ihre geleistet und vollbracht und nun nichts mehr zu gewinnen, wenn sie sich schamhafter Zurückhaltung befleißigten. Arbeiten konnten sie nicht mehr, und so wurden sie wie die kleinen Kinder, die sich ums Geldverdienen keine Gedanken machen. «Grundgütiger Gott im Himmel», sagten die Mummelgreise, «wir haben uns das Schweinigeln nun lange genug verkneifen müssen, jetzt wollen wir's wenigstens mit dem Maul nachholen!» Und weil die Leute, die ihrer Arbeit nachgehen mußten, keine Zeit und auch keine Lust hatten, ihnen zuzuhören, schwätzten sie eben mit den Kindern, und manchmal zeigten sie ihnen, was man mit fünfundsiebzig Jahren wird. Dem Pfarrer war nicht so sehr wegen der Kinder bange, als vielmehr um die alten Männlein, die Gefahr liefen, vom Riß einer Pulsadergeschwulst oder sonst einem Übel dahingerafft zu werden, während sie eine schwarze Sünde auf dem Gewissen hatten. - Marcel Aymé, Die grüne Stute. Reinbek bei Hamburg 1964 (rororo 402, zuerst 1932)

Greis (7)  Neben uns im Café Riche diniert ein Greis, ein Stammgast ohne Zweifel, denn ein Kellner in schwarzem Frack zählt ihm des langen und breiten die Gerichte auf, und als er ihn fragt, was er wünsche; sagt der Greis: »Ich wünschte . . . ich wünschte, einen Wunsch zu haben. Geben Sie mir die Karte.«    - (gon)

Greis (8)   Die Greise aus dem Hospiz umtrippelten unsere Sonderräume mit unsichern und tappenden Schrittchen. Sie gingen von einem Saal zum andern und spien überall ihre Fäulnis und ihre Klatschereien aus, sie trugen Tratsch und abgeschmackte Lügen hin und her. In der klösterlichen Abgeschiedenheit ihres behördlich konzessionierten Elends, in einer geifrigen Umfriedung abgeschlossen, käuten diese alten Arbeiter den ganzen Unrat wieder, den viele Jahre der Knechtschaft in den Seelen ablagern. Ohnmächtige Haßgefühle wurden in den verpißten Mußesrunden der Gemeinschaftszimmer sauer... Ihre letzten mickrigen Kräfte dienten ihnen nur dazu, einander noch was anzutun und sich die letzten Freuden und den letzten Atemzug zu vergällen.

Höchste Wollust! An ihren schwieligen, bresthaften Leibern war nichts mehr, das nicht böse gewesen wäre.

Als die Greise erfuhren, daß wir Soldaten uns mit ihnen in die zweifelhaften Annehmlichkeiten der Bastei zu teilen hätten, fanden sie sich in schöner Einigkeit in gemeinsamem Hasse gegen uns; aber dabei bettelten sie uns unaufhörlich um Tabakreste und um altbackene, unter die Betten gerollte Stückchen Brot an. Während der Essenszeit preßten sie ihre pergamentenen Gesichter an die Fensterscheiben des Speisesaals. Über den faltigen Rotznasen lugten die verschmitzten Äuglein gieriger Ratten. Einer der Bresthaften war noch schlauer und niederträchtiger als alle andern; er sang uns Liedchen aus seiner Jugend vor, man nannte ihn den Vater Birouette. Für Tabak war er zu allem zu haben, man konnte von ihm verlangen, was man wollte. Nur nicht, daß er an der Leichenkammer vorüberginge, die niemals leer stand. Einer der üblichen Spaße bestand darin, ihn spazieren und dann zur Leichenkammer zu fuhren. «Wollen wir nicht hineinschauen?» fragte man ihn, wenn man vor der Tür stand. Er rannte röchelnd davon, möglichst rasch und möglichst weit, und ließ sich mindestens zwei Tage lang nicht mehr blicken. Er hatte den Tod gesehen.  - (reise)

Greis (9)

Der Greis

Meine Blicke sind von Tränen schwer,
Meine Füße tragen mich nicht mehr.

Meine Hände sind zur Faust geballt,
Die sich zitternd um den Knüppel krallt.

Wären meine Arme nicht so schwach,
Würf ich ihn dem blonden Knaben nach,

Der die Zunge grinsend nach mir bleckt.
Ich wollte, daß mit mir die ganze Welt verreckt...

-  Klabund

Greis (10)

DIE SIEBEN GREISE

Wimmelnde Stadt, Stadt voller Träume, wo das Gespenst sich am hellen Tag an den Passanten heftet! Wie Säfte durchsickern überall Geheimnisse die engen Kanäle des mächtigen Kolosses.

Eines Morgens, während auf der düstren Straße die Häuser, die im Nebel noch zu wachsen schienen, wie die beiden Kaimauern eines angeschwollenen Flusses ragten, und während als Kulisse, die der Seele des Schauspielers glich,

Ein schmutzig gelber Nebel alles überschwemmte, nahm ich, meine Sehnen straffend wie ein Held und meine Seele, die schon müde war, ermunternd, durch die Vorstadt meinen Weg, wo schwer die Karren rumpelten.

Plötzlich stand ein Greis vor mir, dessen gelbe Lumpen diesem Regenhimmel ihre Färbung entliehen hatten und dessen Anblick Almosen hätte regnen lassen, wäre nicht die Bosheit gewesen, die aus seinen Augen funkelte,

Als hätte Galle die Augäpfel ganz durchtränkt; aus seinem Blick stach scharfer Frost, und sein langer Bart, der dem des Judas glich, warf wie ein Schwert sich steif nach vorn.

Er ging nicht gebeugt, sondern geknickt, sein Rückgrat stand genau im rechten Winkel zu seinem Bein, so daß der Stecken, der sein Bild vollständig machte, ihm eine Haltung gab und einen Gang, so unbeholfen

Wie eines kranken Vierfüßlers oder eines Juden auf drei Pfoten ... Er stapfte tief durch Schnee und Schmutz, als ob er Tote unter seinen Schuhn zerquetschte, nicht teilnahmlos, nein, auf die ganze Welt voll Haß.

Sein Ebenbild kam hinter ihm: Bart, Auge, Rücken, Stekken, Lumpen, nichts unterschied, dem gleichen Höllenschacht entstiegen, diesen hundertjährigen Zwillingsbru-der, und diese schiefwüchsigen Gespenster wanderten im gleichen Schritt einem unbekannten Ziele zu. War ich das Opfer eines niederträchtigen Komplotts, oder war es ein Zufall, der mich so hämisch foppte? Denn siebenmal, Minute um Minute, zählte ich diesen Greis, der sich grausig vervielfachte!

Wer meine Angst verlacht und nicht von einem brüderlichen Schauer sich angerührt fühlt, der bedenke, daß trotz ihres morschen Alters diese sieben mißgeformten Greuel vom Stempel des Ewigen gezeichnet schienen!

Hätte ich, ohne daß es mein Tod war, den achten schauen können, noch einen Doppelgänger, boshaft unerbittlich und unvermeidlich, abgeschmackter Phönix, Sohn und Vater seiner selbst? — Doch ich kehrte dem Höllenzug den Rücken.

Wütend wie ein Betrunkener, der doppelt sieht, ging ich nach Haus, warf meine Tür ins Schloß, krank vor Entsetzen und durchkältet, fiebernden und wirren Geistes, von dem Mysterium des Aberwitzes wund!

Vergeblich wollte die Vernunft das Steuer fassen; wie sehr sie sich auch mühte, alles machte spielend der Sturm zuschanden, und meine Seele trieb, ein altes Lastschiff, tanzend, tanzend, ohne Masten, auf wüstem, uferlosem Meer!

- Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Übs. Friedhelm Kemp Frankfurt am Main 1966 (Fischer-Tb. 737)

Greis (11)   Pferdesohn zog durch die Wälder, bis er einen Menschen traf. »Guten Tag!« — »Danke!« — »Wie heißt du?« — »Spalteholz.« — »Ach, wir wollen Brüderschaft machen. Los, komm mit mir!« Dann gingen sie weiter, bis sie noch einen Dritten trafen. »Guten Tag!« — »Danke!« — »Wie heißt du?« — »Spaltestein.« — »Wir wollen Brüderschaft machen!« Da machten sie Brüderschaft. »Los, weiter!« Da gingen sie weiter, bis sie noch einen Vierten trafen. »Guten Tag!« — »Danke!« — »Wie heißt du?« — »Beugebaum.« — »Los, weiter!« Da wanderten sie zu vieren weiter, bis sie zu einer Räuberspelunke kamen. Die Räuber hatten gerade ein Kalb geschlachtet. Sowie sie aber unsere vier Wanderer erblickten, flohen sie und ließen alles Fleisch zurück. Jene kochten das Fleisch und aßen und übernachteten in dem Hause. Am Morgen sprach der Pferdesohn: »Drei von uns müssen in den Wald auf die Jagd, einer aber muß zu Hause bleiben, um das Essen zu kochen.« Da ließen sie den Spalteholz zurück, damit er Essen bereite. Nachdem er gutes Essen zugerichtet hatte, kam ein Greis zu ihm, der war eine Spanne lang und hatte einen ellenlangen Bart. »Gib mir zu essen!« — »Ich kann dir nichts geben, sonst kann ich ja meinen Kameraden, wenn sie von der Jagd zurückkehren, nichts vorsetzen.« Da ging der Alte in den Wald und schnitt vier Astgabeln. Dann warf er den Spalteholz zu Boden und klammerte ihn an Händen und Füßen an die Erde. Nachdem er alles aufgegessen hatte, gab er ihn wieder frei und ging von dannen.  - (zig)

Lebenszeit Mann
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