ottwerden   Die drei Söhne hatten von früher Jugend an eine Vorliebe für geheime Weisheit. So gingen sie miteinander auf eine Insel im Meer. Dort setzten sie sich hin und pflegten der Beschauung. Sie hörten nichts, sie sahen nichts, sie redeten nichts und bewegten sich nicht. Die Vögel kamen und nisteten in ihrem Haar; die Spinnen kamen und spannen Netze über ihr Gesicht. Würmer und Kerfe kamen und krochen ihnen zur Nase und den Ohren aus und ein. Sie aber kümmerten sich nicht darum.

Als sie viele Jahre so gesessen hatten, erlangten sie geheimen Sinn und wurden Götter.  - (chm)

Gottwerden   (2)  Erinnert euch das nicht an Jean-Jacques, der es wagte, nachdem er aller Welt nicht ohne eine gewisse Wollust gebeichtet hatte, mit derselben Aufrichtigkeit und derselben Überzeugung (der Unterschied wenigstens ist sehr klein) dasselbe Triumphgeschrei auszustoßen? Die Begeisterung, mit der er die Tugend bewunderte, die nervöse Rührung, die seine Augen angesichts einer schönen Tat oder beim Gedanken an all die schönen Taten, die er hätte vollbringen mögen, mit Tränen füllte, genügten, ihm die absolute Idee seines sittlichen Wertes zu vermitteln. Jean-Jacques hatte sich ohne Haschisch berauscht.

Soll ich die Analyse dieser sieghaften Monomanie noch weiter verfolgen? Soll ich erklären, wie mein Gewährsmann unter der Gewalt des Giftes bald zum Mittelpunkt des Alls wird? Wie er zum lebendigen und übertriebenen Ausdruck des Sprichworts wird, welches besagt, daß die Leidenschaft alles auf sich selbst bezieht? Er glaubt an seine Tugend und an sein Genie. Errät man nicht, wie das endet? Alle Gegensätze ringsum sind ebenso viele Eingebungen, die in ihm eine Welt von Gedanken anregen, die alle bunter, lebendiger, scharfsinniger als je und von einem magischen Firnis überzogen sind. «Die herrlichen Städte», sagt er sich, «in denen die wundervollen Gebäude wie in Ausstattungsstücken staffelförmig aufgestellt sind - diese schönen, von den Fluten der Reede in sehnsüchtiger Muße geschaukelten Schiffe, die aussehen, als würden sie unsere Gedanken wiedergeben: Wann fahren wir aus, um das Glück zu finden? - diese Museen, die von schönen Formen und erregenden Farben überquellen-diese Bibliotheken, in denen die Werke der Wissenschaft und die Träume der Muse aufgestapelt sind - diese versammelten Instrumente, die mit einer einzigen Stimme sprechen - diese zauberhaften Frauen, die noch reizender sind durch die Ausgeklügeltheit ihres Schmuckes und die Sparsamkeit ihrer Blicke - all diese Dinge wurden für mich,.für mich, für mich geschaffen! Für mich hat die Menschheit gearbeitet, für mich wurde sie gemartert, geopfert, um meiner unersättlichen Gier nach Gemütsbewegungen, Erkenntnis und Schönheit als Nahrung, als pabulum zu dienen!» -

 Ich überspringe das Folgende und kürze ab. Niemand wird sich darüber wundern, daß aus dem Hirn des Träumers ein erhabener Schlußgedanke entspringt: «Ich bin zum Gott geworden!» Daß ein wilder, glühender Schrei mit solcher Gewalt, solcher Macht aus seiner Brust dringt, daß er, wenn der Wille und die Gläubigkeit eines trunkenen Mannes wirksam wären, die auf den Himmelswegen verstreut wandelnden Engel umwerfen würde: «Ich bin ein Gott!» Doch bald verwandelt sich dieser Orkan des Hochmuts in eine Atmosphäre ruhiger, stummer und ausgeruhter Glückseligkeit, und die Gesamtheit aller Wesen wird bunt und wie von schwefliger Morgenröte angestrahlt. Sollte sich zufällig eine undeutliche Erinnerung in die Seele dieses beklagenswerten Glücklichen einschleichen: Könnte es nicht doch noch einen andern Gott geben? Dann, glaubt mir, würde er sich vor diesem andern aufrichten, würde dessen Willen in Frage stellen und ihm ohne Grauen die Stirn bieten. Welcher französische Philosoph hat, die modernen deutschen Doktrinen verspottend, gesagt: «Ich bin ein Gott, der schlecht gespeist hat»? Diese Ironie würde einem vom Haschisch entführten Geist keinen Eindruck machen. Er würde ruhig antworten: «Es ist möglich, daß ich schlecht gespeist habe. Aber ich bin ein Gott.» - Charles Baudelaire, Die künstlichen Paradiese. Zürich 2000 (zuerst ca. 1860)

 

Götter Verwandlung

 

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