Gott der Verdauung   Ach, die nutzlosen Leiden und überflüssigen Schmerzen der Evolution! Auf jeder Stufe der schöpferischen Entwicklung steht ein Gott, und jeder ist von größerer Eifersucht auf seine Geschöpfe erfüllt. Der grausamste steht nicht unbedingt ganz oben auf der Leiter. In Indien gibt es unter Millionen von anderen Göttern einen einzigen, der kein Leid zufügt. Er begnügt sich damit, zu verdauen. Sein Bauch ist so voll, daß er die Falten seines Gürtels zu sprengen droht, und vor lauter Herumschnüffeln im Essen hat sein Gesicht sich zum Rüssel verzerrt, und er wühlt damit in den Brandopfern herum. Niemand weiß, ob er der Gott des Lebens oder des Todes ist. Jedenfalls hat er kein Gehirn mehr, es ist ihm zu den Nüstern herausgelaufen. Aus seinen schrägen Schlitzäuglein tropft der Schaum von heißem Fett. «Ich denke nicht, aber ich bin. Ich bin der, der ist!» Eine alptraumhafte Vision. Er ist ganz aus Fleisch, ohne Knochen! Ich frage mich, wer so etwas zusammenträumen konnte? Leider keine weißen Würmer, sondern Menschen. Wie du oder ich. Es hängt davon ab, was einem im Schlaf erscheint. Schlafen ist etwas Grauenhaftes!    - Blaise Cendrars, Sternbild Eiffelturm. Zürich 1982 (zuerst 1949)
 
 

 

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