lockenläuten Gerald überlegte. Sogar die leere Halle mit ihrem trostlosen Zierat und den Allerweltsmöbeln wirkte feindselig. »Sie können wohl kaum die ganze Nacht lang üben«, sagte er. Doch jetzt dämpfte Angst seine Stimme.
»Üben!« Die Verachtung des Commanders schnitt kalt durch den überheizten Raum.
»Was sonst?«
»Sie läuten, um die Toten zu erwecken.«
Ein Windstoß, der sich im Kamin fing, ließ das bereits donnernde Feuer aufflammen. Gerald war sehr blaß geworden.
»Das ist nur so eine Redensart«, sagte er kaum hörbar.
»Nicht in Holihaven.« Der Blick des Commanders war zum Feuer zurückgekehrt.
Gerald blickte Phrynne an. Sie atmete leichter. Seine Stimme sank zu einem Wispern herab. »Was geschieht?«
Auch der Commander wisperte beinahe. »Keiner weiß, wie lange sie weiter läuten
müssen. Das ändert sich von Jahr zu Jahr. Warum weiß ich nicht. Bis Mitternacht
sind Sie sicher. Vielleicht etwas länger. Schließlich erwachen die Toten. Erst
einer oder zwei: dann alle. Heute nacht zieht sich sogar das Meer zurück. Sie
haben es selbst gesehen. An so einem Ort wie hier ertrinken jedes Jahr einige
Leute. Aber das sind die wenigsten. Die meisten steigen nicht aus dem Wasser,
sondern aus der Erde. Kein schöner Anblick.« - Robert Aickman, Wechselgeläut.
In: Das unsichtbare Auge. Eine Sammlung von Phantomen und anderen unheimlichen
Erscheinungen. Hg. Kalju Kirde. Frankfurt am Main 1979 (st 477, zuerst 1862)
Glockenläuten (2, britisches) Die Kunst des Wechselläutens
ist ein spezifisch englischer Brauch, der, wie die meisten englischen Eigentümlichkeiten,
der übrigen Welt völlig unzugänglich ist. Für einen musikalischen Belgier zum
Beispiel- wird ein sorgfältig abgestimmter Glockensatz einzig und allein dazu
dienen, eine Melodie darauf ertönen zu lassen. Der englische Glockenfachmann
dagegen hält das Läuten von Melodien für ein kindisches Spiel. Für ihn sind
Glocken dazu da, um mathematische Spielereien und Kombinationen
zu vollführen. Wenn er von Glockenmusik spricht, so denkt er nicht an die Kunst
des Musikers - und noch viel weniger an das, was der Mann von der Straße unter
Musik versteht. Für den Durchschnittshörer stellt Glockenläuten meist ein eintöniges
Geräusch dar, noch dazu ein störendes, das nur aus der Entfernung oder in Verbindung
mit irgendwelchen Stimmungsassoziationen erträglich ist. Anders der wahre Glockenliebhaber.
Er weiß genau, daß nur bei der englischen kunstvollen Art des Läutens jede einzelne
Glocke wirklich ihr Bestes hergibt, das heißt, ihre volle Tonschönheit zu entfalten
vermag. Seine Leidenschaft - und das ist es - findet ihre Befriedigung in der
mathematischen und mechanischen Vollkommenheit, und wenn seine Glocke im Takte
ertönt, die Führung übernimmt, allmählich zurückgleitet und schließlich ihren
Lauf wiederum von vorne beginnt, so erfüllt ihn das mit einem fast erhabenen
Rausch, als vollzöge er fehlerlos einen schwierigen religiösen Ritus.
Hätte ein unbefangener Zuschauer zufällig einen Blick auf die probenden Männer
geworfen, so wären ihm diese acht völlig in sich versunkenen Gesichter zweifellos
reichlich sonderbar vorgekommen - diese acht gespannten Körper, die, wie in
einem magischen Zirkel, auf den Kanten der acht Stühle saßen, und die acht erhobenen
rechten Hände, die gleichmäßig die Handglocken hin und her schwangen. - Dorothy Sayers, Die neun
Schneider. Frankfurt am Main 1966
Glockenläuten (3)
Glockenläuten (4, britisches 2) Wimsey ging rasch zur Turmtür und stieg die Treppe hinauf. Die Glocken ließen immer noch ihr wildes Geläute erschallen. Er ging an den schwitzenden Läutern vorbei, kletterte weiter hinauf, durch das Uhr-Zimmer, in dem sich Hausrat türmte, bis zur Glockenstube. Dort traf das eherne Toben seine Ohren wie tausend Hammerschläge zugleich. Der ganze Turm war ein einziges trunkenes Gelärm - er tobte und raste mit den tobenden, rasenden Glocken und taumelte wie ein Betrunkener. Betäubt setzte Wimsey seinen Fuß auf die letzte Leiter. Aber schon in halber Höhe mußte er halt-ftiachen, sich verzweifelt mit beiden Händen anklammernd. Der Lärm durchbohrte und erdrückte ihn. In dem ehernen Gebrüll erklang ein hoher Ton, schrill und unaufhörlich -ejn Ton, der wie ein Schwert in sein Gehirn drang. Er hatte das Gefühl, als ob alles Blut aus seinem Körper in seinen Kopf stiege und ihn zum Zerspringen füllte. Rasch ließ er die Leiter los und versuchte seine Ohren mit den Fingern zuzuhalten, doch sofort überkam ihn eine solche Übelkeit, daß ihm schwindlig wurde und er beinah heruntergefallen wäre. Nicht der Lärm war es; er fühlte nur noch einen unerträglichen Schmerz, eine bohrende, hämmernde Qual, die ihn wahnsinnig machte. Er schrie, konnte aber seinen eigenen Schrei nicht hören. Sein Trommelfell war am Platzen, sein Bewußtsein im Schwinden. Das hier war tausendmal schlimmer als das schwerste Artilleriefeuer. Das hatte gehämmert und betäubt, aber hier war dieser unerträglich schrille Klang, der einen zum Wahnsinn trieb, der einem Überfall höllischer Geister glich. Wimsey fühlte sich unfähig, sich vor- oder rückwärts zu bewegen, obwohl ihn sein immer schwächer werdendes Bewußtsein unaufhörlich drängte: »Ich muß hier heraus! Ich muß hier heraus.« Der Glockenstuhl schien sich um ihn zu drehen, während die Glocken, nur einen Arm breit von ihm entfernt, auf und ab schwangen. Auf und ab gingen ihre Münder, ertönten ihre ehernen Zungen, und über allem immer dieser eine schrille, hohe, erbarmungslose Ton, der unermüdlich bohrte.
Da Wimsey nicht fähig war, hinabzusteigen - sein Kopf schwamm und sein Magen
revoltierte bei dem bloßen Gedanken daran -, klammerte er sich mit einer letzten,
verzweifeften Kraftanstrengung an die Leiter und kroch taumelnd aufwärts. Fuß
für Fuß, Sprosse für Sprosse erfocht er sich seinen Weg nach oben. Jetzt wai
die Falltür unmittelbar über seinem Kopf. Er hob seine Hand, die schwer wie
Blei war, und schob den Riegel beiseite. Stolpernd und mit dem Gefühl, als wäre
er ganz und gar in Wasser getaucht, fiel er mehr als er ging nach vorn und sank
dann auf dem windumwehten Dach nieder. Blut rann ihm aus Nase und Ohren. Als
er die Tür unter sich zuschlug, versank das teuflische Getöse in der Tiefe,
um - in harmonische Klänge verwandelt - aus den Öffnungen der Turmfenster emporzusteigen.
- Dorothy Sayers, Die neun
Schneider. Frankfurt am Main 1966
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