Glasauge

   

- Angelika Hoerle

Glasauge (2) Ich habe ein Glasauge und stehe im Hof. Nur die Hälfte von allem ist deutlich wahrnehmbar. Die Steine sind naß und bemoost, und in den Spalten hocken dunkle Kröten. Eine große Tür versperrt den Zugang zum Keller; die Stufen sind schlüpfrig und mit Fledermausdreck beschmutzt. Die Tür ist verquollen und sackt, die Scharniere fallen fast herunter, aber es ist ein tadellos erhaltenes Emailleschild angebracht, darauf ist zu lesen: <Bitte die Tür schließend Warum die Tür schließen? Ich komme nicht dahinter. Ich schaue erneut nach dem Schild, aber es ist weg. Eine Buntglasscheibe ist an seiner Stelle. Ich nehme mein Kunstauge heraus, spucke darauf und poliere es mit meinem Taschentuch. Eine Frau sitzt auf einem Podium über einem riesigen geschnitzten Pult. Sie hat eine Schlange um ihren Hals gelegt. Im ganzen Zimmer sind ringsum Bücher und seltsame, in farbigen Rundgefäßen schwimmende Fische. An der Wand hängen Land- und Seekarten, Karten von Paris vor der Pest, Karten von der Antiken Welt, von Knossos und Karthago, von Karthago vor und nach der Zerstörung. In einer Ecke des Zimmers sehe ich eine eiserne Bettstatt, und auf ihr liegt ein Leichnam. Die Frau steht gelangweilt auf, hebt den Leichnam vom Bett auf und wirft ihn zerstreut aus dem Fenster. Sie kehrt an das große, geschnitzte Pult zurück, nimmt einen Goldfisch aus dem Glas und verschlingt ihn.  - (krebs)

Glasauge (3)   Während sich der Abstand zwischen ihnen allmählich verringerte, erkannte Mondaugen, daß ihr linkes Auge künstlich war: als sie seine Neugier bemerkte, nahm sie es entgegenkommend heraus, legte es auf ihre Handfläche und hielt es ihm entgegen. Eine durchscheinende Kugel, deren »Weißes« in der Augenhöhle seegrün schimmerte. Ein feines Netz fast mikroskopisch kleiner Risse überzog die Oberfläche. In ihrem Inneren waren die winzigen Räder, Federn und Unruhe einer Uhr, die von einem goldenen Schlüssel aufgezogen wurde, den Fräulein Meroving am Hals trug. Dunkleres Grün und goldene Flecken, die ungefähr als die zwölf Tierkreiszeichen zu erkennen waren, bildeten gleichzeitig Iris und Zifferblatt.  - (v)

Glasauge (4)  

Glasauge (5)  Die Trauerfeier kam ihm so einsam vor, trotz all der Menschen.

»Wußten Sie, daß er sein Glasauge auf der Straße verloren hat?« flüsterte der Mann neben Jonathan ihm in der Kirche zu. »Bei dem Anprall ist es ihm rausgefallen.«

»Ach -?« Teilnehmend schüttelte Jonathan den Kopf. Der Mann neben ihm war ein Ladenbesitzer, Jonathan kannte ihn vom Sehen, aber er kam nicht drauf, welcher Laden ihm gehörte. Er sah im Geist Gauthiers Glasauge auf der Asphaltstraße Hegen - vielleicht war es inzwischen längst zerbrochen, von schweren Rädern überfahren, aber vielleicht hatte auch ein neugieriges Kind es gefunden und aufbewahrt. Wie mochte ein Glasauge von hinten aussehen?   - Patricia Highsmith, Ripley's Game. Zürich 1973
 

 

Auge Prothese Glas

 

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