Glasauge (2) Ich habe ein Glasauge
und stehe im Hof. Nur die Hälfte von allem ist deutlich wahrnehmbar. Die Steine
sind naß und bemoost, und in den Spalten hocken dunkle Kröten. Eine große Tür
versperrt den Zugang zum Keller; die Stufen sind schlüpfrig und mit Fledermausdreck
beschmutzt. Die Tür ist verquollen und sackt, die Scharniere fallen fast herunter,
aber es ist ein tadellos erhaltenes Emailleschild angebracht, darauf ist zu
lesen: <Bitte die Tür schließend Warum die Tür schließen? Ich komme nicht
dahinter. Ich schaue erneut nach dem Schild, aber es ist weg. Eine Buntglasscheibe
ist an seiner Stelle. Ich nehme mein Kunstauge heraus, spucke darauf und poliere
es mit meinem Taschentuch. Eine Frau sitzt auf einem Podium über einem riesigen
geschnitzten Pult. Sie hat eine Schlange um ihren Hals gelegt. Im ganzen Zimmer
sind ringsum Bücher und seltsame, in farbigen Rundgefäßen schwimmende Fische.
An der Wand hängen Land- und Seekarten, Karten von Paris vor der Pest, Karten
von der Antiken Welt, von Knossos und Karthago, von Karthago vor und nach der
Zerstörung. In einer Ecke des Zimmers sehe ich eine eiserne Bettstatt, und auf
ihr liegt ein Leichnam. Die Frau steht gelangweilt auf, hebt den Leichnam vom
Bett auf und wirft ihn zerstreut aus dem Fenster. Sie kehrt an das große, geschnitzte
Pult zurück, nimmt einen Goldfisch aus dem Glas und verschlingt ihn. - (krebs)
Glasauge (3)
Während sich der Abstand zwischen ihnen allmählich verringerte,
erkannte Mondaugen, daß ihr linkes Auge künstlich war: als sie seine Neugier
bemerkte, nahm sie es entgegenkommend heraus, legte es auf ihre Handfläche und
hielt es ihm entgegen. Eine durchscheinende Kugel, deren »Weißes« in der Augenhöhle
seegrün schimmerte. Ein feines Netz fast mikroskopisch kleiner Risse überzog
die Oberfläche. In ihrem Inneren waren die winzigen Räder, Federn und Unruhe
einer Uhr, die von einem goldenen Schlüssel aufgezogen
wurde, den Fräulein Meroving am Hals trug. Dunkleres Grün und goldene Flecken,
die ungefähr als die zwölf Tierkreiszeichen zu erkennen waren, bildeten gleichzeitig
Iris und Zifferblatt. -
(v)
Glasauge (4)
Glasauge (5) Die Trauerfeier kam ihm so einsam vor, trotz all der Menschen.
»Wußten Sie, daß er sein Glasauge auf der Straße verloren hat?« flüsterte der Mann neben Jonathan ihm in der Kirche zu. »Bei dem Anprall ist es ihm rausgefallen.«
»Ach -?« Teilnehmend schüttelte Jonathan den Kopf. Der Mann neben ihm war
ein Ladenbesitzer, Jonathan kannte ihn vom Sehen, aber er kam nicht drauf, welcher
Laden ihm gehörte. Er sah im Geist Gauthiers Glasauge auf der Asphaltstraße
Hegen - vielleicht war es inzwischen längst zerbrochen, von schweren Rädern
überfahren, aber vielleicht hatte auch ein neugieriges Kind es gefunden und
aufbewahrt. Wie mochte ein Glasauge von hinten aussehen? - Patricia Highsmith, Ripley's
Game. Zürich 1973
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