indrossel
Die Schwesternschaft
des Gins — ebenso wie die dazugehörige Bruderschaft - stand in voller Blüte.
Als Gin gegen Ende des 17. Jahrhunderts erstmals
in England bekannt wurde (manche behaupten, William III. hätte ihn aus
Holland mitgebracht, andere sagen, der Teufel selbst hätte ihn aus Knochen
und Mark destilliert), wurde er über Nacht zum Schlager bei den unteren
Schichten. Billig wie Pisse, stark wie ein Schlag auf den Schädel: alle
waren ganz verrückt danach. Wozu den ganzen Abend lang Bier in sich reinkippen,
wenn man schon in einer halben Stunde voll im Öl sein konnte - für einen
Penny? Schon 1710 waren die Straßen von Besoffenen übersät, manche splitternackt
ausgezogen, andere steif wie Grabsteine. Als Sir Joseph Jekyll, Vorsteher
des Londoner Staatsarchivs, ein Gesetz zur Eindämmung des verderblichen
Einflusses des Gins durch Konzessionierung und Besteuerung einbrachte,
rotteten die Menschen sich zusammen, um sein Haus mit Steinen zu bewerfen
und die Räder seiner Kutsche abzunagen. Es war unaufhaltsam. Gin war ein
Mittel zur Linderung von harten Zeiten, er war Schlaf und Poesie, er war
das Leben selbst. Aqua vitae. Neds Mutter war eine Gindrossel der zweiten
Generation. Ihr Vater war Gerber. Er trank einen Liter am Tag und zog Häute
ab. Er verkaufte sie mit neun als Dienstmädchen, mit dreizehn saß sie auf
der Straße, mit vierzehn wurde sie Mutter. Sie starb an Leberzirrhose,
Gebirnfieber, Schwindsucht und Chlorose, bevor sie zwanzig war. - T. Coraghessan
Boyle, Wassermusik. Reinbek bei Hamburg 1990
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