ewißheit 272. Ich weiß = Es ist mir als gewiß bekannt.

273. Wann aber sagt man von etwas, es sei gewiß?
Denn darüber, ob etwas gewiß ist, läßt sich streiten; wenn nämlich etwas objektiv gewiß ist.
Es gibt eine Unzahl allgemeiner Erfahrungssätze, die uns als gewiß gelten.

274. Daß Einem, dem man den Arm abgehackt, er nicht wieder wächst, ist ein solcher. Daß Einer, dem man den Kopf abgehauen hat, tot ist und nie wieder lebendig wird, ein andrer.

Man kann sagen, daß Erfahrung uns diese Sätze lehrt. Sie lehrt sie uns aber nicht isoliert, sondern sie lehrt uns eine Menge zusammenhängender Sätze. Wären sie isoliert, so könnte ich etwa an ihnen zweifeln, denn ich habe keine sie betreffende Erfahrung. - Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit. Frankfurt am Main 1997, entstanden ca. 1951

Gewißheit (2)  Ein Geist, der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche die Natur beleben, und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese Angaben der Analyse zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und des leichtesten Atoms begreifen: nichts wäre ungewiß für ihn, und Zukunft wie Vergangenheit wäre seinem Blick gegenwärtig. - Pierre Simon Marquis de Laplace

Gewißheit (3)   Niemand hat Gewißheit, ob er wacht oder schläft, es sei denn im Glauben; denn im Schlaf ist die Überzeugung zu wachen nicht weniger fest, als im wirklichen Wachzustand... Da wir die Hälfte des Lebens zugestandenermaßen schlafend zubringen . . . wer weiß, ob jene andere Hälfte des Lebens, in der wir zu wachen meinen, nicht bloß ein leicht abgewandelter Schlaf ist, aus dem wir erwachen, wenn wir zu schlafen meinen?  - Blaise Pascal, nach: André Breton, Die kommunizierenden Röhren. Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1932)

Gewißheit (4)  »Die Gewißheit, daß ich werde fortsetzen können, nachdem ich dies Erlebnis gehabt habe - z. B. diese Formel gesehen habe - stündet sich einfach auf Induktion.« Was heißt das? - »Die Gewißheit, daß das Feuer mich brennen wird, gründet sich auf Induktion.« Heißt dies, daß ich bei mir schließe »Ich habe mich immer an einer Flamme verbrannt, also wird es auch jetzt geschehen«? Oder ist die frühere Erfahrung die Ursache meiner Gewißheit, nicht ihr Grund? Ist die frühere Erfahrung die Ursache der Gewißheit — das kommt auf das System von Hypothesen, Naturgesetzen an, in welchem wir das Phänomen der Gewißheit betrachten.

Ist die Zuversicht gerechtfertigt? -Was die Menschen als Rechtfertigung gelten lassen, - zeigt, wie sie denken und leben. - (wit)

Gewißheit (5)  Wie ich nun dort auf meinem Felsplateau ausgestreckt lag, spürte ich die Wirkung des Weines, der astrologischen Zeichen und Rituale der katholischen Sertão-Kirche immer stärker. Es war der große Vorteil der Tierkreiszeichen, Spielkarten, Banner, Wappen, Mäntel mit Kreuzen und Halbmonden, Silbersterne, Lanzen und anderen königlichen Insignien meiner Kirche und meiner Monarchie, daß ich mit ihrer Hilfe das blinde leere Loch der Welt und die assyrische Wüste meiner Seele füllen konnte. Indem ich mein Blut mit Heftigkeit pulsieren fühlte, konnte ich nicht länger an mir zweifeln. Mein Blut verbürgte mir das Vorhandensein meines Körpers und der Körper das Vorhandensein meiner Seele. Auch die Welt nahm nun ein verändertes Aussehen an. Abgesehen davon, daß ich in meinem göttlichen Rausch die Gewißheit hatte, selber vorhanden zu sein, schaute ich auf den Ort, an dem ich kurz zuvor die graubraune Welt wahrgenommen hatte - den räudigen Jaguar, der über dem Abgrund aus Asche hockte -, und sah nun nicht mehr das mit Krätze bedeckte Tier, sondern statt dessen einen schönen, leuchtenden gefleckten Jaguar mit goldfarbigem Fell und braunroten Flecken. Die lausige Rasse der Menschen und die giftigen Skorpione, die Tiere in seinem Pelz, erschienen mir nun wie eine hervorragend organisierte Kavalkade, die von Königen, Knappen, Königinnen, Damen und Bischöfen zu Pferde veranstaltet wurde, eine schöne, glorreiche, mit Schwertern und Bannern geschmückte Kavalkade. Ihr Zug über das Raubtierfell der Welt erschien mir nicht mehr als ein feiges, gemeines Gewühl, als schändlicher, nutzloser Fluchtversuch von unrettbar zum Tode Verdammten, sondern als eine Kavalkade wie diejenigen, die ich hier in der Stadt durchführte und die - als meine Prozessionen - auch zum Ritual meines Katholizismus gehörten. Diese Kavalkade der Welt - deren Anführer, Mauren- und Kreuzfahrerkönig Gott war {so wie ich der Anführer meiner Kavalkaden) - schleppte sich nicht mehr feige und häßlich auf das Aschenreich des Todes zu, sondern galoppierte tapfer auf die göttliche Sonne, auf die Sonne des Schrecklichen zu. Deshalb erschien mir die Welt nicht mehr als ein krankes, aussätziges Tier, als räudiger grauer Ort, der dem Zufall entsprungen war, sondern als ruhmreicher, auf Fels gegründeter, gleichzeitig harmonischer und glutvoller Sertão. In gleicher Weise war der mir zugefallene Teil der Welt, der ›Sertão‹, nicht mehr nur der Sertão, den viele Leute sahen, sondern das Königreich, von dem ich träumte, voller Pferde und Reiter, roter Wachskerzen-Früchte, die wie Sterne leuchteten und von den schwarzroten Pfeilen der Trupiale angepickt wurden und auf das Silbergefunkel anderer Sterne Antwort gaben: die Sternenbrüste der Damen, die schwarzroten Sterne der weiblichen Geschlechtsteile, die Metallsterne, die auf den Standarten der Kavalkaden oder auf den Lederhüten prangten, welche die Viehtreiber und Cangaceiros trugen, die Edelleute meines Königshauses mit ihren ledernen Baronatskronen. Gott selber war nicht mehr das zarte Säuseln der anderen Religionen: er erschien mir als allerheiligste Sertão-Dreifaltigkeit, eine glühende, glorreiche Sonne, gebildet aus fünf Tieren in einem: aus dem roten Jaguar, dem schwarzen Jaguar, dem braunen Jaguar dem weißen Reh und dem Goldsperber oder, anders ausgedrückt, dem Vater, dem Teufel, dem Sohn, der Mitleidreichen und dem heiligen Geist.«   - (stein)

Gewißheit (6) Phänomene, die statistisch berechenbar sind, gehen nicht plötzlich an einer eindeutigen Grenze, sondern ganz allmählich in statistisch unberechenbare Phänomene über. Die Haltung des Wissenschaftlers ist die eines kognitiven Optimismus, denn er nimmt an, daß die von ihm untersuchten Objekte berechenbar seien. Am schönsten ist es, wenn sie in deterministischer Weise berechenbar sind: Der Einfallswinkel ist gleich dem Reflexionswinkel, ein in Wasser getauchter Körper verliert genau so viel von seinem Gewicht, wie das von ihm verdrängte Wasser wiegt, und so weiter. Ein wenig schlimmer ist es, wenn an die Stelle der Gewißheit die berechenbare Wahrscheinlichkeit tritt. Ganz schlimm ist es aber, wenn sich überhaupt nichts berechnen läßt. Es wird oft gesagt, daß dort, wo man nichts berechnen, also nichts vorhersehen kann, das Chaos herrsche. In den exakten Wissenschaften bedeutet »Chaos« jedoch keineswegs, daß wir überhaupt nichts darüber wissen, daß wir es mit einer Art von »absoluter Unordnung« zu tun haben. Eine »absolute Unordnung« gibt es überhaupt nicht, und erst recht kann bei der beschriebenen Geschichte mit der Flasche und dem Ball von Chaos keine Rede sein; für sich genommen, unterliegt jedes Ereignis den Gesetzen der Physik, und zwar der deterministischen, nicht der Quantenphysik, denn meßbar ist sowohl die Kraft, mit der das Kind gegen den Ball stieß, als auch der Winkel, unter dem Ball und Flasche zusammenprallten, sowohl die Geschwindigkeit dieser beiden Körper in diesem Augenblick als auch die Bahn, auf der die Flasche sich bewegte, nachdem sie von dem Ball abgeprallt war, und schließlich auch die Geschwindigkeit, mit der die Flasche, nachdem sie ins Aqua­rium gefallen war, sich mit Wasser füllte. Jede einzelne Etappe dieses Geschehens unterlag, für sich genommen, grundsätzlich der Physik und war damit berechenbar, doch die aus allen Etappen zusammen bestehende Serie ist nicht berechenbar (man kann also nicht feststellen, wie häufig das, was in diesem Falle eben geschehen ist, geschehen kann). Das Problem besteht darin, daß sämtliche Theorien »von großer Reichweite«, mit denen die Physik operiert, unvollständig sind, weil sie nichts über die Anfangsbedingungen aussagen. Die Anfangsbedingungen müssen gesondert von außen in die Theorie eingeführt werden. Wenn aber bestimmte Anfangsbedingungen per Zufall exakt erfüllt sein müssen, damit die ebenfalls sehr genau präzisierten Anfangsbedingungen für das nächste Ereignis entstehen usw., dann wird, wie man sieht, eine Gewißheit, die über den Bereich der Wahrscheinlichkeiten hinausgeht, zu einer Unbekannten, über die man lediglich noch sagen kann, daß »etwas überaus Sonderbares geschehen ist«.   - Stanislaw Lem, Das Katastrophenprinzip. Aus Lems Bibliothek des 21. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1983 (st 999)

Gewißheit (7) Der Offizier kam ans Fenster, legte einen Finger an die Hutkrempe und lächelte, als er Amelia bemerkte. Zu Boudreaux sagte er: »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Victor meint, die beiden würden für mich arbeiten.«

»Ach ja? Das tut mir leid, denn wir sind ziemlich sicher, daß diese beiden üble Kerle sind, die gegen uns kämpfen.«

»Aber Sie sind sich nicht sicher.«

»Nein, ich habe gesagt, wir sind ziemlich sicher. Was ist dasselbe wie ziemlich sicher? Einigermaßen sicher? Sehr sicher? Sagen wir, ich bin so sicher, wie ich sein muß.«

Boudreaux meinte: »Nun, wenn Sie so sicher sind...«, und dann lächelte er ein wenig.

Tavalera wollte sich schon umdrehen, blieb aber stehen, als Amelia sagte: »Einen Moment«, erstaunt, daß Rollie nicht weiter nachhakte. »Victor ist genauso sicher, daß es keine Aufständischen sind. Es muß doch eine Lösung für eine solche Situation geben. Oder nicht?«

»Ja, natürlich«, erklärte Tavalera. »Wir sagen immer, warum das Risiko eingehen, einen Fehler zu machen?« Er drehte sich vom Fenster weg, winkte seine Männer beiseite, ging dann auf die beiden Gefangenen zu, nahm ihnen die Schlingen ab und stellte sie hintereinander auf, so als wollte er sie vom Bahnsteig wegführen. Dann zog er seinen Revolver und schoß alle beide, Bam Bam, einfach so, in die rechte Schläfe.  - Elmore Leonard, Cuba Libre. München 1999

Gewißheit (8)

Gewißheit (9)

Endgültiges zur Frage der Gewißheit

Es gibt Aussagen.
Es gibt Aussagen, die wahr sind.
Es gibt Aussagen, die nicht wahr sind.
Es gibt Aussagen, bei denen sich nicht entscheiden läßt,
ob sie wahr sind oder nicht.
Es gibt Aussagen, bei denen sich nicht entscheiden läßt,
ob die Aussage, daß sich nicht entscheiden läßt,
ob sie wahr sind oder nicht,
wahr ist oder nicht,
usw.

 - Hans Magnus Enzensberger, Die Elixiere der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002

Gewißheit (10) Grover fragte diesen und jenen, worauf sie lossteuerten, und das Seltsame war, daß keiner, obwohl sie alle ihrer persönlichen Bestimmung zustrebten, je innehielt, um zu überlegen, daß die für alle gleiche und unausweichliche Bestimmung das Grab war. Darüber zerbrach sich Grover den Kopf, denn niemand konnte ihn überzeugen, daß der Tod keine Gewißheit war, während jeder jeden anderen überzeugen konnte, daß jede andere Bestimmung eine Ungewißheit war. Von der tödlichen Sicherheit des Todes überzeugt, wurde Grover plötzlich ungeheuer und überwältigend lebendig. Zum erstenmal in seinem Leben begann er zu leben, und gleichzeitig vergaß er völlig seinen Klumpfuß. Auch das ist seltsam, wenn man es bedenkt, denn der Klumpfuß war, ganz wie der Tod, eine andere unausweichliche Tatsache. Der Klumpfuß jedoch, oder, was wichtiger ist, alles was dem Klumpfuß zugeschrieben worden war, war aus seinem Denken getilgt. In gleicher Weise spielte der Tod, nachdem er sich mit ihm abgefunden hatte, keine Rolle mehr in Grovers Denken. Nachdem er die eine Gewißheit des Todes erfaßt hatte, waren alle Ungewißheiten abgetan. Die übrige Welt hinkte nun mit ihrer klumpfüßigen Ungewißheit auf ihrem Wege weiter; allein Grover Watrous war frei und unbehindert. Grover Watrous war die verkörperte Gewißheit. Er mochte unrecht haben, aber er war sich gewiß. Und was nützt es, recht zu haben, wenn man mit einem Klumpfuß vorwärts hinken muß? Nur ein paar Menschen sind sich jemals dieser Wahrheit bewußt geworden, und ihre Namen wurden große Namen. Grover Watrous wird wahrscheinlich nie berühmt werden, aber er ist trotzdem sehr groß. Das ist vermutlich der Grund, warum ich über ihn schreibe - eben die Tatsache, daß ich Verstand genug hatte, zu merken, daß Grover Größe erreicht hatte, wenn es auch niemand außer mir zugeben wollte. Damals glaubte ich einfach, Grover sei ein harmloser Fanatiker, ja, sogar, wie meine Mutter andeutete, leicht <verrückt>. Aber jeder Mensch, dem die Wahrheit der Gewißheit aufgegangen ist, war leicht verrückt, und nur diese Menschen haben etwas für die Welt vollbracht. Andere Menschen, andere große Menschen, haben hier und dort ein wenig zerstört, aber diese wenigen, von denen ich spreche und denen ich Grover Watrous zurechne, waren fähig, alles zu zerstören, auf daß die Wahrheit lebe. Gewöhnlich wurden diese Menschen mit einem körperlichen Fehler, etwa mit einem Klumpfuß, geboren, und durch eine seltsame Ironie ist es nur der Klumpfuß, an den sich die Menschen erinnern. Wenn ein Mensch wie Grover sich von der Besessenheit durch seinen Klumpfuß befreit, sagt die Welt, er sei <besessen>. Das ist die Logik der Ungewißheit, und ihre Frucht ist Elend. Grover war der einzige von wirklicher Freude erfüllte Mensch, dem ich jemals im Leben begegnet bin, und deshalb errichte ich ihm hier dieses kleine Denkmal, ihm zum Gedächtnis, zum Gedächtnis seiner freudigen Gewißheit. Es ist ein Jammer, daß er Christus als Krücke brauchte, aber was macht es schon aus, wie man zur Wahrheit gelangt, wenn man nur nach ihr strebt und durch sie lebt?   - (wendek)
 
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