esicht, Zweites  Daß Alles, ohne Ausnahme, was geschieht, mit strenger Nothwendigkeit eintritt, ist eine a priori einzusehende, folglich unumstößliche Wahrheit: ich will sie hier den demonstrabeln Fatalismus nennen. In meiner Preisschrift über die Freiheit des Willens ergiebt sie sich  als das Resultat aller vorhergegangenen Untersuchungen. Sie wird empirisch und a posteriori bestätigt; durch die nicht mehr zweifelhafte Thatsache, daß magnetische Somnambule, daß mit dem zweiten Gesichte begabte Menschen, ja, daß bisweilen die Träume des gewöhnlichen Schlafs, das Zukünftige geradezu und genau vorher verkünden. Am auffallendsten ist diese empirische Bestätigung meiner Theorie der strengen Nothwendigkeit alles Geschehenden beim zweiten Gesicht. Denn das, vermöge desselben, oft lange vorher Verkündete sehn wir nachmals, ganz genau und mit allen Nebenumständen, wie sie angegeben waren, eintreten, sogar dann, wann man sich absichtlich und auf alle Weise bemüht hatte, es zu hintertreiben, oder die eintreffende Begebenheit, wenigstens in irgend einem Nebenumstande, von der mitgetheilten Vision abweichen zu machen; welches stets vergeblich gewesen ist; indem dann gerade Das, welches das vorher Verkündete vereiteln sollte, allemal es herbeizuführen gedient hat; gerade so, wie sowohl in den Tragödien, als in der Geschichte der Alten, das von Orakeln oder Träumen verkündigte Unheil eben durch die Vorkehrungsmittel dagegen herbeigezogen wird. Als Beispiele hievon nenne ich, aus so vielen, bloß den König Oedipus und die schöne Geschichte vom Krösus mit dem Adrastos im ersten Buche des Herodot. Die diesen entsprechenden Fälle beim zweiten Gesicht findet man, von dem grundehrlichen Bende Bendsen mitgetheilt, im 3ten Hefte des achten Bandes des Archivs für thierischen Magnetismus von Kieser; wie auch einen in Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde § 155. Wäre nun die Gabe des zweiten Gesichts so häufig, wie sie selten ist; so würden unzählige Vorfälle, vorherverkündet, genau eintreffen und der unleugbare faktische Beweis der strengen Nothwendigkeit alles und jedes Geschehenden, Jedem zugänglich, allgemein vorliegen. Dann würde kein Zweifel mehr darüber bleiben, daß, so sehr auch der Lauf der Dinge sich als rein zufällig darstellt, er es im Grunde doch nicht ist, vielmehr alle diese Zufälle selbst, [das planlos Geschehende] von einer, tief verborgenen Nothwendigkeit, [Schicksal], umfaßt werden, deren bloßes Werkzeug der Zufall selbst ist.  - (schop)

Gesicht, Zweites (2)  Von der Existenz des zweiten Gesichts hatte sich Balzac auch praktisch überzeugt. 1843 besucht er den Kartenschläger Balthazar und berichtet darüber an Frau von Hanska: «Dieser Mann hat die Gabe des zweiten Gesichts, denn er hat Sie mir beschrieben, wie wenn er Sie sähe.» 1832 schlug er dem Arzt Chapelain vor, eine «recht luzide» Somnambule über die Ursachen der Cholera-Epidemie zu befragen, und 1835 plante er, sich selbst Somnambulen zu halten, um von niemandem betroffen zu werden.   - Ernst Robert Curtius, Balzac. Bern 1951

Gesicht, Zweites (3)  Eines Tages unterhielten sich meine beiden kleinen Söhne im Salon mit einem Spiel, das sie sich in ihrer kindlichen Phantasie ausgedacht hatten. Der jüngere verband seinem Bruder die Augen und ließ ihn die Gegenstände erraten, die er berührte, und wenn dieser aufgrund von Vermutungen richtig riet, nahm der jüngere seinen Platz ein.

Das so einfache, kindliche Spiel ließ jedoch in mir einen meiner kompliziertesten Einfälle reifen.

Um die Idee zu entwickeln, schloß ich mich eiligst in meinem Kabinett ein. Glücklicherweise befand ich mich in einer Stimmung, in welcher der Geist willig, ja sogar mit Vergnügen den Kombinationen der Phantasie folgt. Ich stützte den Kopf in die Hände und stellte in völliger Konzentration die ersten Prinzipien des Zweiten Gesichts auf.

Man würde ein ganzes Buch benötigen, um die vielen Kombinationen dieses Versuchs zu beschreiben. Ich kann aber dem Wunsch nicht widerstehen, wenigstens einige der Vorübungen kurz zu erwähnen, die meiner Ansicht nach nötig waren, um das Experiment auszuführen.

Ich erinnere an jene ungewöhnliche Fähigkeit, die ich mir angeeignet hatte: Ich konnte lesen und gleichzeitig mit vier Kugeln jonglieren.

Ich dachte viel darüber nach und kam zu dem Schluß, daß die Aufnahmefähigkeit durch Schätzung sich noch bedeutend entwickeln ließe, wenn ich Gedächtnis und Intelligenz zu diesem Zweck schulte. Ich beschloß daher, mit meinem Sohn Emile Versuche In dieser neuen Richtung zu unternehmen, und um meinem jungen Mitarbeiter die Art der Übungen verständlich zu machen, die wir anstellen sollten, nahm ich einen Dominostein, den mit der Fünf und der Vier, und legte diesen vor ihn. Anstatt ihn die Punkte der beiden Zahlen nacheinander zählen zu lassen, verlangte ich, das Kind solle mir sofort die Gesamtsumme nennen. »Neun«, sagte er.

Ich legte einen zweiten Stein, die Vier-Drei-Kombination, daneben.

»Das macht sechzehn«, sagte er ohne Zögern. Damit ließ ich es als erste Lektion genug sein. Am folgenden Tag gelang es uns, mit einem Blick drei und auch vier Steine zu addieren, einen Tag darauf fünf, und wir kamen durch täglich neue Fortschritte so weit, zu erreichen, daß wir die Summe von zwölf Steinen auf einen Blick angeben konnten. Nach diesem Erfolg beschäftigten wir uns mit einer wesentlich schwierigeren Aufgabe, der wir uns mehr als einen Monat lang widmeten.

Ich ging mit meinem Sohn ziemlich schnell an dem Schaufenster eines Spielzeugladens oder sonst einer mit verschiedenen Waren dekorierten Auslage vorbei, und wir warfen einen aufmerksamen Blick darauf.

Einige Schritte weiter nahmen wir ein Stück Papier und einen Bleistift aus der Tasche und bemühten uns, unabhängig voneinander, eine möglichst große Anzahl von Gegenständen zu notieren, die wir uns beim Vorbeigehen gemerkt hatten. Ich muß zugeben, daß sich mein Sohn bei diesem Spiel eine Fertigkeit erwarb, die ich selbst nie erreichte. Es gelang ihm oftmals, vierzig Gegenstände aufzuschreiben, während ich es kaum auf dreißig brachte. Ein wenig verärgert über die Niederlage, ging ich zu dem Laden zurück, um seine Angaben nachzuprüfen, es geschah jedoch selten, daß er einen Fehler gemacht hatte. Zweifellos werden meine Leser zugeben, daß eine solche Übung möglich ist, und sie gewiß schwierig finden. Nicht so meine Leserinnen, bei denen ich von vornherein sicher bin, daß sie diese Meinung nicht teilen, da sie täglich zumindest ebenso ungewöhnliche Wahrnehmungen machen.

So zum Beispiel kann eine Frau, die eine andere Frau in einer rasch vorbeifahrenden Kutsche sieht, tatsächlich die ganze Toilette der Vorbeifahrenden vom Hut bis einschließlich zu den Schuhen überblicken und ist imstande, nachher nicht nur die Form der Kleidung, die Art und Qualität der Stoffe anzugeben, sondern auch noch zu sagen, ob die englische, Mechelner oder Alenconspitze echt oder falsch war. Ich habe Frauen gekannt, die das fertigbrachten.

Mein Sohn und ich hatten uns die bei den Damen natürliche oder künstliche Fähigkeit durch ständiges Training erworben, und sie war mir für meine Vorstellungen von großem Nutzen, denn während ich meine Kunststücke ausführte, sah ich auch noch alles, was um mich her vorging, und so konnte ich mich darauf einstellen, allen Schwierigkeiten zu begegnen, die man mir bereitete. Die Übung hatte mir sozusagen die Möglichkeit gegeben, gleichzeitig zwei Gedanken zu verfolgen, und nichts ist günstiger für die Taschenspielerkunst als die Fähigkeit, parallel an das zu denken, was man sagt, und an das, was man tut, denn dies ist garantiert nicht das gleiche. Später bekam ich eine derartige Routine darin, daß es mir häufig während meiner Vorstellung gelang, neue Kunststücke auszudenken. Einmal ging ich sogar eine Wette ein, daß ich ein mechanisches Problem lösen und gleichzeitig ein Gespräch führen könne. Ich sprach über die Freuden des Landlebens und berechnete daneben die Anzahl und Größe der Zahnräder und Ritzel, die notwendig sind, um eine gegebene Umdrehungszahl zu erreichen, ohne dabei auch nur einen Augenblick aus dem Konzept zu kommen.

Das genügt wohl zur Erklärung der Grundlagen des Zweiten Gesichts. Außerdem bestand zwischen meinem Sohn und mir auch noch eine geheime Verbindung, durch die ich ihm ohne jede Schwierigkeit Namen, Art und Größe der Gegenstände angab, die von den Zuschauern vorgelegt wurden.

*

Das Experiment ist eine Weiterentwicklung des Zweiten Gesichts, das ich schon beschrieben habe. Die Resultate sind die gleichen, nur das Prinzip ist verändert.

Statt meinem Sohn bei jedem Gegenstand, der mir übergeben wurde, die Frage zu stellen: »Sage mir, was ich in der Hand halte?«, schlug ich einmal auf ein Glöckchen, und obgleich sich das Signal nie änderte, beschrieb das Kind den Gegenstand, als ob es ihn vor Augen hätte.

Was aber den unentwegten Erforschern meiner Geheimnisse rätselhaft vorkommen mochte: eine Weile später legte ich das Glöckchen beiseite, und obgleich ich völliges Stillschweigen bewahrte, wurden dennoch alle Gegenstände von dem Kind unverzüglich beschrieben. Ich ahmte auch gewisse Phänomene nach, die von einigen magnetisierten Objekten ausgingen. Ich bedeckte die Augen meines Sohnes mit einer dicken Binde und gab ihm, ohne ein Wort zu sprechen, ein mit Wasser gefülltes Glas in die Hand. Sobald die Flüssigkeit seine Lippen berührte, nahm sie den Geschmack irgendeines, auch noch so ausgefallenen Getränks an, das sich ein Zuschauer im Geiste vorzustellen beliebte. Dann ließ ich ihn, weiterhin ohne ein Wort zu sprechen, ein Blumenbukett zu einer Dame bringen, die ein Zuschauer insgeheim bezeichnet hatte; oder er führte einen Befehl aus, der mir zugeflüstert worden war, beispielsweise: Eine Tabakdose aus der Tasche einer bezeichneten Person herausholen; sie öffnen, eine Prise Tabak entnehmen, sie dann zu einer anderen Person bringen und in ihre Geldbörse legen. - Die Memoiren des Zauberers Robert-Houdin. Hg. Alexander Adrion. Frankfurt am Main 1981 (it 506, zuerst 1858)

Gesicht, Zweites (4) Wenn Monsieur Traum einen Brief erhält öffnet er ihn nicht sofort. Er legt ihn auf seinen Tisch um Zeit zu haben sich mit ihm vertraut zu machen. Kommt ihm der Gedanke es sei eine gute Nachricht, wird das Vergnügen auf diese Weise verlängert, andernfalls ist es stets früh genug, vom Unglück Kenntnis zu nehmen. Und Monsieur Traum täuscht sich nie. Fordert man ihn auf, sich über dieses Phänomen des zweiten Gesichts zu äußern, kann er es nicht, es sei eine Gabe, sagt er.

Dazu muß man wissen daß Monsieur Traum sehr wenig Post empfängt. Entweder ist es eine Mahnung der Steuer oder ein Brief seiner Nichte. So daß es leicht für ihn ist zu wissen, welche der beiden die gute Nachricht ist. Aber wenn seine Nichte eines Tages Beamtin der Steuerbehörde sein wird?

Und Monsieur Traum macht sich Sorgen darüber. Er kann nicht schlafen. Er sieht seine Nichte mit einer dicken Brille hinter einem Schreibtisch, sie erkennt ihn nicht, als er eintritt, sie befiehlt ihm die Hände aus den Taschen zu nehmen, sich die Fingernägel zu schneiden, und droht ihm ein Tintenfaß ins Gesicht zu schmeißen, falls er nicht auf der Stelle zahle. - (rp2)

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