Gesichtserkennung   In jedem alten Gesicht schien er ein Vorzeichen des Aussehens des wirklichen Stillman zu finden, und er änderte rasch seine Erwartungen mit jedem neuen Gesicht, so als kündete die Anhäufung alter Männer das unmittelbar bevorstehende Kommen Stillmans an. Einen kurzen Augenblick dachte Quinn: So sieht also Detektivarbeit aus. Aber sonst dachte er nichts. Er beobachtete nur. Unbeweglich in der sich bewegenden Menge stand er da und beobachtete.

Als ungefähr die Hälfte der Reisenden an ihm vorbeigegangen war, erblickte Quinn Stillman zum erstenmal. Die Ähnlichkeit mit dem Foto schien unverkennbar zu sein.

Nein, er war nicht kahl geworden, wie Quinn gedacht hatte. Sein Haar war weiß und ungekämmt und stand kreuz und quer in Büscheln in die Höhe. Er war groß, mager, ohne Frage über sechzig und ging ein wenig gebeugt. Er trug einen für die Jahreszeit unpassenden langen braunen Mantel, der schäbig geworden war, und er schlurfte ein wenig beim Gehen. Sein Gesichtsausdruck schien ruhig zu sein, halb benommen, halb gedankenverloren. Er hatte keinen Blick für die Dinge um ihn her, und sie schienen ihn auch nicht zu interessieren. Er trug nur ein Gepäckstück, einen einst schönen, nun aber abgenutzten Lederkoffer mit einem Riemen darum. Während er den Auf gang heraufkam, stellte er den Koffer ein- oder zweimal ab und ruhte einen Augenblick aus. Er schien sich mit Mühe zu bewegen, war ein wenig von der Menge verwirrt und wußte nicht, ob er mit ihr Schritt halten oder sich von den anderen überholen lassen sollte.

Quinn trat ein paar Meter zurück und bereitete sich darauf vor, rasch nach links oder rechts auszuweichen, je nachdem, was geschehen würde. Gleichzeitig wollte er weit genug entfernt sein, damit Stillman nicht bemerkte, daß er verfolgt wurde.

Als Stillman am Ausgang der Bahnhofshalle ankam, stellte er seinen Koffer wieder ab und ruhte sich aus. In diesem Augenblick erlaubte sich Quinn, einen Blick über den Rest der Menge schweifen zu lassen, um doppelt sicher zu sein, daß er keinem Irrtum erlegen war. Was dann geschah, entzog sich jeder Erklärung. Unmittelbar hinter Stillman, nur wenige Zoll hinter seiner rechten Schulter auftauchend, blieb ein anderer Mann stehen, nahm ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Sein Gesicht glich dem Stillmans wie ein Zwilling dem anderen. Eine Sekunde lang dachte Quinn, es handle sich um ein Trugbild, eine Art Aura, die von den elektromagnetischen Strömungen in Stillmans Körper ausgestrahlt wurde. Aber nein, dieser andere Stillman bewegte sich, atmete, blinzelte; seine Handlungen waren offensichtlich vom ersten Stillman unabhängig. Der zweite Stillman sah wohlhabend aus. Er trug einen teuren blauen Anzug, seine Schuhe glänzten, sein weißes Haar war gekämmt, und seine Augen hatten den klugen Ausdruck eines Mannes von Welt. Auch er trug nur ein Gepäckstück: einen eleganten schwarzen Koffer, der etwa ebensogroß war wie der des anderen Stillman. Quinn erstarrte. Er konnte nun nichts tun, was nicht ein Fehler war. Jede Wahl, die er traf - und wählen mußte er -, war rein willkürlich, eine Kapitulation vor dem Zufall. Die Ungewißheit würde ihn bis zuletzt verfolgen. In diesem Augenblick gingen beide Stillmans weiter. Der erste wandte sich nach rechts, der zweite nach links. Quinn wünschte sich sehnlichst, sich wie eine Amöbe teilen zu können, um in zwei Richtungen zugleich weiterzugehen. «Tu etwas», sagte er sich. «Tu sofort etwas, du Idiot.»

Ohne besonderen Grund ging er nach links und folgte dem zweiten Stillman. Nach neun oder zehn Schritten blieb er stehen. Etwas sagte ihm, daß er ewig bedauern würde, was er soeben tat. Er handelte aus Trotz, er wollte den zweiten Stillman dafür bestrafen, daß er ihn verwirrte. Er machte kehrt und sah den ersten Stillman in der anderen Richtung davonschlurfen. Gewiß war dies sein Mann.   - Paul Auster, Die Stadt aus Glas. in: P. A., Die New-York-Trilogie. Reinbek bei Hamburg 1991

Gesichtserkennung (2)  

Ich ging, da war die Tür versperrt,
Da hieb' und stampft' ich, schlug und zerrt'

Die Tür war zu, das sah ich noch
Und drückte auf die Klinke, doch -

Es entstand eine lange Stille.

»Ist es aus?« fragte Alice zaghaft.  »Es ist aus«, sagte Goggelmoggel. »Adieu.« »Das kam doch recht unvermittelt«, dachte Alice; aber nachdem man ihr so überaus deutlich zu verstehen gab, daß man sie los sein wollte, hielt sie es für unhöflich, noch länger zu bleiben. Und also streckte sie die Hand aus und sagte in möglichst fröhlichem Ton: »Adieu! Auf baldiges Wiedersehn!« »Ich würde dich nicht wiedererkennen, selbst wenn wir uns wiedersehen sollten«, sagte Goggelmoggel ungnädig und hielt ihr einen Finger zum Abschied hin; »dazu bist du zu sehr wie alle anderen.«

»Im allgemeinen richtet man sich da nach dem Gesicht«, bemerkte Alice nachdenklich. - »Das ist es ja gerade, was ich an dir auszusetzen habe«, sagte Goggelmoggel. »Du hast ein Allerweltsgesicht - zwei Augen so —« (und dabei stach er mit dem Daumen zweimal in die Luft) »Nase in der Mitte, Mund quer darunter. Immer dasselbe. Wenn du dagegen die Augen beide auf der gleichen Seite hättest, zum Beispiel - oder den Mund oben - dann wäre die Sache schon etwas einfacher.« »Das sähe aber nicht schön aus«, widersprach Alice. Aber Goggelmoggel machte nur die Augen zu und sagte: »Versuchs erst mal.«

Alice wartete noch eine Weile, ob er vielleicht noch etwas sagen würde, aber da er seine Augen nicht mehr aufmachte und ihr überhaupt keine Beachtung mehr schenkte, sagte sie noch einmal: »Also dann, adieu!«, und als sie auch darauf keine Antwort mehr bekam, ging sie still ihrer Wege; aber nach einigen Schritten konnte sie doch nicht mehr an sich halten und sagte zu sich; »So etwas von einer unerquicklichen -« (und das sagte sie gleich .noch einmal laut vor sich hin, denn es schien ihr tröstlich, ein so langes Wort verwendet zu haben) »so etwas von einer unerquicklichen Bekanntschaft ist mir doch mein Lebtag noch nicht —«  - Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln. Frankfurt am Main 1974 (zuerst 1872)

Gesicht Erkennen

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