Gesicht, perverses  Moses Melker schaute aus dem Fenster. In der Ferne war Grönland zu sehen. Zwischen den Eisbergen wie ein Kinderspielzeug ein Schiff. Melker bemerkte plötzlich, daß neben ihm jemand im zurückgestellten Sessel mehr lag als saß, ein langer, hagerer Mann in einem Anzug englischen Zuschnitts, vollkommen kahl, mit einer goldenen randlosen Halbbrille, der in ein Notizbuch von rechts nach links schrieb.

»Ihr Gesicht fällt mir auf«, sagte der Fremde. »Es ist wundervoll pervers. Ich bin fasziniert von Ihrem Gesicht. Sie müssen auf die Frauen kolossal erotisch wirken. Wollen wir unsere Gesichter tauschen? In meiner Klinik in der Strada della Collina in Ascona. Ich hab ein langweiliges Gesicht. Keine Frau gerät seinetwegen auf abwegige Gedanken wie bei dem Ihren, Herr Melker.«

»Sie kennen mich?« fragte Melker.

»Na ja«, antwortete der Fremde, »Sie haben eine erfolgreiche Vortragsreise hinter sich. Obgleich Ihr Englisch sehr altmodisch klingt. Wo haben Sie es denn eingetrichtert bekommen?«

Er könne Bunyans Pilgerreise auswendig, erklärte Moses Melker stolz.

»Auswendig. Donnerwetter«, staunte der Fremde. »Bunyans Pilgerreise? Nun, ich würde Ihnen die Highsmith empfehlen. Ambler, Hammett. Oder schmökern Sie mal in den Science-fictions Ihrer Cäcilie.«

Sie lese nur deutsch, sagte Melker, erstaunt, daß der Fremde den Vornamen seiner Frau kannte.

»Nun, wie war's mit dem Tausch?« fragte der Fremde.

Er biete für Melkers Gesicht hunderttausend. Die Operation koste nichts. Er mache sie selber, damit auch nichts verpfuscht werde. Gleichzeitig müsse er auch sich selber operieren. Sie säßen beide eng beieinander auf zwei Operationsstühlen. Er lasse sie so konstruieren, daß sie beide Kopf an Kopf seien, Wange an Wange. Er sei Zweihänder. Er könne sie beide gleichzeitig operieren. Wenn Melker wolle, brächten sie das Ganze auch in Zürich hinter sich. Im Universitätsspital. Damit die Studenten auch was lernten.

»Nein«, antwortete Moses Melker, »ich behalte mein Gesicht.«

»Es besteht Gefahr, daß Ihre sexuellen Instinkte wieder explodieren, Herr Melker«, sagte der Fremde. »Wie neulich bei der Lisi Blatter. So hieß sie doch, das Mädchen, dessen Leiche die Grien hinuntertrieb? Friedlich. Mit weitgeöffneten Augen.«

Melker sah zum Fenster hinaus.

»Ich bin Michael«, sagte der Fremde.

Es waren keine Eisberge mehr zu sehen, auch kein Schiff, auch Grönland nicht mehr. Nur Himmel. Der Sessel neben Melker war leer, und als er spät in der Nacht nach Grienwil zurückkehrte, sah er schon vom Dorf aus, daß im Schlafzimmer noch Licht war. Cäcilie Melker-Räuchlin lag in ihrem durchsichtigen Nachthemd im Ehebett, rauchte eine Zigarre, las einen Kriminalroman und aß Pralinen, ein Himalaya von Fett. »Komm, mein Schimpanse«, sagte sie, »schlüpf unter die Decke und bete zum Großen Alten, daß ich mich nicht auf dich wälze, dir zu den Herrlichkeiten seines Jenseits zu verhelfen.«    - Friedrich Dürrenmatt, Durcheinandertal. Zürich 1998

 

Gesicht Perversion

 

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