Geschöpf, doppelsinniges   In der dunklen Höhe des vierten Stockes klopfte die Unbekannte an die Tür; die Tür öffnete sich, und sie traten zusammen ein. Eine Frau von gar nicht üblem Aussehen empfing sie mit der Kerze in der Hand und sah Piskarjow so sonderbar und so frech an, daß er unwillkürlich seine Augen niederschlug. Sie traten in ein Zimmer. Drei weibliche Gestalten in drei verschiedenen Ecken boten sich seinen Blicken. Die eine legte Karten; die andere saß am Pianino und spielte mit zwei Fingern eine Art alte Polonäse; die dritte saß vor einem Spiegel, kämmte mit einem Kamme ihr langes Haar und dachte gar nicht daran, beim Eintritt eines Unbekannten diese Beschäftigung zu unterbrechen. Eine eigentümliche, unangenehme Unordnung, wie man sie nur im Zimmer eines gleichgültigen Junggesellen trifft, herrschte hier überall. Die recht guten Möbelstücke waren von Staub bedeckt; die Spinne hatte die Stuckverzierungen des Plafonds mit ihrem Gewebe überzogen; durch die halbgeöffnete Tür sah man im Nebenzimmer einen mit einem Sporn versehenen Stiefel und den roten Vorstoß einer Uniform leuchten; eine laute Männerstimme und weibliches Lachen klangen ganz ungezwungen.

Mein Gott, wo war er hingeraten! Anfangs wollte er seinen Wahrnehmungen nicht trauen und musterte aufmerksamer die Gegenstände, die das Zimmer füllten; aber die kahlen Wände und die Fenster ohne Vorhänge wiesen auf das Fehlen einer sorgenden Hausfrau hin; die abgelebten Gesichter dieser elenden Geschöpfe, von denen sich das eine dicht vor seiner Nase hinsetzte und ihn ebenso ruhig betrachtete, wie einen Fleck auf einem fremden Kleide, - dies alles gab ihm die Überzeugung, daß er in eine ekelhafte Spelunke geraten war, wo das von der oberflächlichen Bildung und der schrecklichen Übervölkerung der Hauptstadt gezeugte elende Laster nistete, in eine Behausung, wo der Mensch alles Reine und Heilige, was das Leben schmückt, gotteslästerlich erdrückt und verspottet hat, wo die Frau, diese Zierde der Welt, diese Krone der Schöpfung sich in ein seltsames, doppelsinniges Geschöpf verwandelt, wo sie zugleich mit der Reinheit der Seele alles Weibliche eingebüßt und sich alle ekelhaften Manieren und die Frechheit des Mannes angeeignet und schon aufgehört hat, jenes schwache, jenes herrliche, und von uns so verschiedene Wesen zu sein. Piskarjow maß sie vom Kopf bis zu den Füßen mit seinen erstaunten Blicken, als wollte er sich überzeugen, ob es dieselbe sei, die ihn auf dem Newskij-Prospekt bezaubert und hingerissen hatte. Aber sie stand vor ihm noch ebenso schön; ebenso schön waren noch ihre Haare und ebenso himmlisch schienen ihre Augen. Sie war noch recht frisch; sie war erst siebzehn Jahre alt; man konnte ihr ansehen, daß sie erst vor kurzer Zeit von dem schrecklichen Laster ergriffen worden war: es wagte noch nicht an ihren Wangen zu rühren, sie waren noch frisch und leicht gerötet; sie war schön.

Er stand unbeweglich vor ihr und war schon bereit, sich ebenso einfältigen Träumereien hinzugeben wie früher. Aber dieses lange Schweigen langweilte die Schöne, und sie lächelte vielsagend, ihm gerade in die Augen blickend. Doch dieses Lächeln war von einer eigenen, elenden Frechheit erfüllt: es war so seltsam und paßte ebenso zu ihrem Gesicht, wie der Ausdruck von Frömmigkeit zu der Fratze eines Wucherers oder ein Kontobuch zu einem Dichter. Er erbebte. Sie öffnete ihren hübschen Mund und begann etwas zu sprechen, aber es war so dumm, so abgeschmackt... Es war, als ob zugleich mit der Unschuld auch der Verstand den Menschen verließe! Er wollte nichts hören. Er war außerordentlich komisch und einfältig wie ein Kind. Statt dieses Wohlwollen auszunützen, statt sich über diesen Zufall zu freuen, wie sich an seiner Stelle wohl jeder andere gefreut haben würde, stürzte er wie eine Gazelle aus dem Zimmer und lief auf die Straße.- Nikolai Gogol, Der Newskij-Prospekt, In: N. G., Petersburger Erzählungen. Wiesbaden 2015 (zuerst ca. 1850)

Geschöpf Doppelsinn

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