eschmack  Der Geschmack ist oft getrennt vom Genie. Das Genie ist ein reines Geschenk der Natur. Was es hervorbringt, ist das Werk eines Augenblicks. Der Geschmack dagegen ist das Produkt des Studiums und der Zeit; er legt Wert auf die Kenntnis einer Menge von feststehenden oder vorausgesetzten Regeln; er bringt nur Schönes hervor, das herkömmlich ist. Soll eine Sache schön nach den Regeln des Geschmackes sein, so muß sie geschliffen, vollendet, ausgearbeitet sein, ohne so zu scheinen. Soll sie gemalsein, so muß sie zuweilen nachlässig sein und unregelmäßig, zerklüftet, wild aussehen. Das Erhabene und das Geniale blitzen bei Shakespeare wie in tiefer Nacht auf; doch Racine ist immer schön, Homer reich an Genie und Virgil reich an Anmut.

Die Regeln und Gesetze des Geschmacks würden dem Genie Fesseln anlegen; es sprengt sie, um sich zum Erhabenen, zum Ergreifenden, zum Großartigen aufzuschwingen. Die Liebe zu diesem Ewigschönen, das so bezeichnend für die Natur ist, und das leidenschaftliche Verlangen, die eigenen Bilder irgendeinem Modell anzugleichen, das sich das Genie geschaffen hat und mit dem seine Ideen und Gefühle des Schönen in Einklang stehen, bilden den Geschmack des Mannes von Genie. Das Bedürfnis nach dem Ausdruck der Leidenschaften, die ihn bewegen, wird durch die Gesetze der Sprache und durch die Sitte fortwährend gehemmt. Oft sträubt sich die Sprache, in der er schreibt, gegen den Ausdruck eines Bildes, das in einer anderen Sprache erhaben wäre. Homer konnte nicht in einer einzigen Mundart die notwendigen Ausdrücke für sein Genie finden; Milton verletzt in jedem Augenblick die Regeln seiner Sprache und sucht nach wirkungsvollen Ausdrücken in drei oder vier anderen Sprachen. Kurz: Kraft und Fülle, irgend etwas Schroffes, das unregelmäßige, das Erhabene, das Ergreifende, das alles ist in den Künsten charakteristisch für das Genie. Es rührt nicht oberflächlich, es gefällt nicht, ohne Erstaunen hervorzurufen, und erregt auch Erstaunen durch seine Fehler. - (enz)

Geschmack (2) Bassompierre war kein tüchtiger Arbeiter im Weinberg seiner Herrin. Einem Mann, der ihn fragte, wie viele Male er die Lanze einlege, wenn er es einmal ungewöhnlich gut machen wolle, antwortete er, er mache es einmal. Und im gewöhnlichen Fall keinmal. Einmal blieb sein - ihr versteht schon - klein. «Oh, noch in dieser Stunde», rief er, «schneide ich dich ab.» - «Holla», meinte die Dame, «vergebt ihm noch dieses eine Mal.» Er mochte hochgewachsene Frauen und sagte, ihm komme es vor, er umarme zwei Frauen, wenn er eine große umarme. Ich bin nicht seiner Meinung. Die Kleinen sind viel leidenschaftlicher und munterer. Mit fünfunddreißig aber müßten sie groß werden, um zum wenigsten ein angenehmes Äußeres zu bekommen und die Majestät, die ihnen abgeht, denn gewöhnlich werden sie rund wie Ferkel. Bei ihm, der meinte, er liebe «schöne Überreste», wundern mich solche Geschmäcker nicht.  - (tal)

Geschmack (3) Die ungeheuerlichen Phantastereien eines Günther-Schwerin sind ein früher Höhepunkt in der deutschen Phantastik und bewegen sich oft an der Grenze des ›guten Geschmacks‹. In "Der Kleptomane" saugt ein Mann mittels seiner Augen Diamanten in sich hinein, um sie später wieder zu erbrechen. - Jenseits der Träume. Seltsame Geschichten vom Anfang des Jahrhunderts. Hg. Robert N. Bloch. Fankfurt am Main 1990 (st 1595, zuerst 1919)

Geschmack (4) »Männer mit Geschmack, ja. Man könnte hinzufügen, sie hatten auf einem bestimmten Gebiet den gleichen Geschmack. Jetzt, da sie beide tot sind, glaube ieh nicht, mich gegen das Berufsgeheimnis zu vergehen, wenn ich Ihnen das erzähle, zumal ja auch Sie zur Diskretion verpflichtet sind. Ein Notar ist fast immer ein Vertrauter. Saint-Hilaire war zudem ein alter Freund, der zu mir kam, um mir von seinen Eskapaden zu berichten. Fast ein Jahr lang haben der Fürst und er die gleiche Geliebte gehabt, ein schönes Mädchen mit üppigem Busen, die in einer, ich weiß nicht mehr in welcher, Revue an den Boulevards spielte. Einer wußte nichts vom anderen. Jeder hatte seinen Tag.«

Der Greis blickte Maigret verschmitzt an.

»Diese Leute wußten zu leben.« - Georges Simenon, Maigret und die alten Leute. München 1972 (Heyne Simenon-Kriminalromane 53, zuerst 1960)

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