eschlechterspannung
In der Berührung von nackter Haut und kostbarer Tuchware versuchten sie
die geschwächte Geschlechterspannung zu erfrischen. Die Mode diente ohne Zweifel
als ein künstliches Reizmittel, den schwindenden Geist des Begehrens zurückzurufen.
Denn mit dem wachsenden Versöhnungsstreben innerhalb der Gemeinschaft war auch
ein fortschreitender Verfall an Polarität und Gegensatz verbunden. Die große
synkretische Eintracht wirkte ganz und gar nicht befördernd auf die Anziehungskraft
der Geschlechter. So mußten häufig, der Natur zu gehorchen, allerlei künstliche,
oft abwegig erscheinende Anreize geschaffen, rituelle Maßnahmen getroffen werden,
um den nötigen ›Spannungsrahmen‹ für die Liebesvereinigung herzustellen.
Der entblößte Körper allein konnte jedenfalls dazu nicht mehr verführen. Geradezu
sprichwörtlich wurde uns jener Typ, jener etwas schläfrig-sterile Typ der stillen
Nackten, die angelehnt und versonnen nebenan in der Tür stand, während Gäste
im Haus versammelt waren, und irgendwann kam sie dazu, setzte sich, wie ein
Kind in der Unterhaltung Erwachsener, auf jemandes Schoß, ohne Interesse, ohne
gebieterischen Wunsch, eigentlich nur, um vom leisen Rauschen des Gesprächs
behütet einzuschlafen. - Botho Strauß, Der junge Mann. München 1984
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