esang  Ohne Orpheus, den wunderbaren Sänger und Leierspieler, könnten wir uns die Argo nicht mehr vorstellen. Alte Künstler stellten ihn schon unter den Argonauten dar. Wenn irgend jemand, so konnte er der Schar nützlich sein, die in das Jenseits eindringen wollte. Orpheus wurde eben dadurch berühmt, daß er die gefährliche Fahrt in die Unterwelt auch für sich allein zu unternehmen fähig war. In den Götter- und Heroengeschichten ist nicht er der erste gewesen, von dem erzählt wurde, er hätte mit Gesang und Leierspiel — beide bildeten nur eine Kunst — Wunder gewirkt. Man weiß, daß Hermes die Leier erfand und als erster zu ihren Tönen sang. Unter den Göttern schenkte er die Leier seinem Bruder Apollon, unter den Heroen einem anderen Bruder, der nachher mit Apollon in Feindseligkeit geriet: Amphion. Wenn es von Orpheus heißt, in unendlichen Scharen kreisten die Vögel über dem Kopf des Sängers, und hoch sprangen die Fische aus dem dunkelblauen Meere ihm entgegen, so wissen wir, daß es die Wirkung seines Gesanges war. Wir sehen ihn, die Leier in der Hand, auf der Argo fahrend. Wenn wir aber noch hören, daß sein Gesang die Steine und Bäume in Bewegung brachte, so erinnern wir uns an die Mauer von Theben, die Amphions Leier erstehen ließ. Die Tat, die Orpheus allein vollbracht hat, war, daß er alles Wilde, sogar die wilden Mächte der Unterwelt, durch seinen Gesang bezwang und bis zu Persephone gelangte. Das stellt ihn neben Perseus und Herakles, Theseus und Iason in die Reihe der Heroen der Griechen. - (kere)

Gesang (2) Wenn die andern Vögel schweigen, so stimmt die Toteneule ihren Gesang an, wie die Trauerweiber ihr altes u-lu-lu. Weise Mitternachtshexen! Es ist nicht das offene, einfache Tuwit-tuhu der Dichter, sondern ein ungemein feierliches Kirchhofslied, die gegenseitigen Tröstungen eines durch Selbstmord geendeten Liebespaares, das in einem Hain der Unterwelt sich der Qualen und Wonnen der irdischen Liebe erinnert. Und doch höre ich es gern, wenn ihr Wehklagen, ihre schmerzerfüllten Antworten den Wald durchhallen; es erinnert an Musik und singende Vögel; es erscheint mir als die dunkle, die tränenvolle Seite der Musik, Trauerlaute, Seufzer, die gerne gesungen werden möchten - Ahnungen und trübe Vorbedeutungen, Geister von gefallenen Seelen, die einst in Nacht auf Erden wandelten und Taten der Finsternis verübten, und jetzt an den Orten, welche Zeugen ihrer Übertretungen waren, die begangenen Sünden unter Weherufen und Klagegesängen abbüßen. Sie eröffnen mir einen neuen Sinn für die Mannigfaltigkeit und Größe dieser Natur, die unsre gemeinsame Wohnung ist. »Oh-o-o-o, wär' ich nie gebor-r-r-ren!« seufzt die eine an dieser Seite des Teiches und kreist mit der Ruhelosigkeit der Verzweiflung zu einem anderen Aste der grauen Eichen, und »Wär' ich nie gebor-r-r-ren«, echot eine andre voll bebender Ergriffenheit von jenseits, und »gebor-r-r-ren« klingt es leise aus dem fernen Lincoln-Wald herüber.

Auch eine Schreieule brachte mir ihr Ständchen. In der Nähe klang es wie der melancholischste Ton in der Natur, als ob sie in ihrem Lied das Stöhnen eines Sterbenden verewigen wollte - das Stöhnen eines armen, schwachen Geschöpfes, das die Hoffnung hinter sich gelassen hat und jetzt beim Betreten des dunklen Tales heult wie ein Tier und schluchzt wie ein Mensch. Dieses Schluchzen wird noch ergreifender durch eine gewisse gurgelnde Melodie - ich verfalle immer auf die Buchstaben gl, wenn ich anfangen will, sie zu beschreiben; es ist der Ausdruck jenes Gemütszustandes, in welchem jeder gesunde und mutige Gedanke zu gelatineartigem, schimmligem Brei zerfließt. Es erinnerte mich an Dämonen, an das Geheul von Idioten und Wahnsinnigen. Aber jetzt antwortet eine andere drüben im Wald, und durch die Entfernung tönt es wirklich melodisch: Huh-huh-huh-hurruh-huh; sie regt in der Tat fast nur angenehme Gedankenverbindungen an, ob sie sich bei Tag oder Nacht, im Sommer oder Winter hören läßt. - Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Zürich 1979 (zuerst 1854)

Gesang (3)  Als C. auf seiner Etage eintraf, lagen die meisten der hier Eingewiesenen bereits auf den Betten, und es war nicht zu erkennen, ob sie schliefen oder sich in den Konvulsionen ihrer Tobsucht wälzten. In den beiden halbdunklen Räumen, die nur durch ein offenstehendes Schiebegitter getrennt waren und in denen noch zwei leere Betten zur Auswahl bereitstanden, empfing ihn ein Gebrodel von Geräuschen, von dem erst nach gewisser Zeit zu erkennen war, daß es menschlichen Ursprung hatte. Es wirkte wie das unterdrückte Heulen und Fauchen gefangener animalischer Wesen, die man nicht in denselben Raum hätte sperren dürfen. Über ein Dutzend Männer aller Altersklassen lagen hier und schnarchten, röchelten, jammerten vor sich hin. Einige von ihnen entließen einen gepreßten wimmernden Dauerton, als habe man in ihrer Brust eine absonderliche Mechanik installiert, die unabhängig von ihrem Willen immer weiter pfiff und quietschte. Das Ganze zusammen war ein Gesang wie aus tiefsten unchristlichen Höllen. Andere wieder lallten ununterbrochen nicht entwirrbare Sätze, es waren Klagen oder Flüche, wahnhafte Ansprachen an nicht vorhandene Zuhörer; sie hielten »Volksreden«, so wurde das hier genannt. Und manchmal schwoll dieses Reden an, steigerte sich bis zu einem Gebrüll, auf welches die Nachbarn, ohne eigentlich aufzuwachen, sogleich mit ängstlichem Gewimmer reagierten.

In solchen Momenten schnappte eine Jalousie rasselnd in die Höhe, hinter dem Glas einer halbrunden Kanzel, aus der beide Räume überblickt werden konnten. Man sah die diensthabende Schwester im dunkelgrünen Kittel, eine kräftige Person in den mittleren Jahren, die den Kopf von ihrer Lektüre hob und nach einem Klingelknopf tastete. Mit der anderen Hand führte sie den Lichtkegel ihrer Schreibtischlampe heraus; den Lampenschirm schwenkend, suchte sie das aufgeregte Bündel in der Bettenreihe, dem die Schreie entstiegen. Dies allein genügte, um das Gebrüll auf den für erträglich gehaltenen Pegel zu mindern. Das Licht des provisorischen Suchscheinwerfers wendete sich in die Kanzel zurück, nicht ohne vorher prüfend über die anderen zuckenden und zitternden Leiber zu fahren, die dicht beieinander, aber ohne den geringsten Kontakt zueinander, ihrer allerintimsten Höllenpein frönten. Die Schreie wurden immer leiser. - Wolfgang Hilbig, Das Provisorium. Frankfurt am Main 2001 (Fischer-Tb. 15099, zuerst 2000)

Gesang (4)   In dem Wald, der sich von Paris über die Seine-Höhen westwärts bis nach Versailles zieht, stand früher, an der Lichtung der Fontaine Sainte-Marie, ein ausgedienter Tanzsaal von der Jahrhundertwende, worin der Patron der Wirtsbude nebenan in aufeinandergetürmten Käfigen Vögel züchtete, zur Teilnahme an internationalen Wettbewerben. Nicht allein der Gesang und die Farben sollten dabei vordringlich zählen, vielmehr die Haltung der, allesamt eher winzigen, Tiere, und insbesondere jene von Hals, Kopf und Schnabel. Es genügte keine Farbenpracht, keine noch so feine Stimme: bestimmend war die Wendung des Kopfes dabei. Für einen Preis kam einzig ein Vogel in Frage, bei dem Leib, Nacken wie Schnabelspitze keine gerade Linie bildeten, und der so auch nicht schnurstracks drauflosflötete. Das Ansingen des Gegenübers durfte nicht direkt vor sich gehen, es war dazu eine Krümmung, ein Bogen, eine Kurve gefordert, welche überdies leicht an dem andern vorbeizielte, ins Leere hinein. Die Abweichung, zusammen mit solch leichter Abgewandtheit, war das Richtige und auch das Schöne. Der Züchter wies mich, während er mich durch den Schuppen führte und die Wettbewerbsregeln erklärte, auf die vielen unbelehrbaren Drauflossänger hin, und wirklich kam deren Geradheit mir da plump und unpassend vor. So ging es nicht. Dann entfernte mein Wirt das Tuch vom Käfig seines Champions. Der Vogel war weder größer, noch farbiger, noch eleganter als seine Genossen. Nur als sein Herr sich vor ihn stellte, straffte er sich, und Hals und Kopf formten einen gekrümmten Pfeil, der Schnabel als dessen Spitze. Der Pfeil zeigte um einige Grade weg von dem Mann, und zugleich leicht nach oben. Obwohl der Vogel, anders als seine Umgebung, still blieb, schien er zu singen. - Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt am Main 1994

Gesang (5)   Du wirst zu den Sirenen gelangen, die alle Menschen bezaubern, wer auch zu ihnen hingelangt. Wer sich in seinem Unverstande ihnen  nähert und den Laut der Sirenen hört, zu dem treten nicht Frau und unmündige Kinder, wenn er nach Hause kehrt, und freuen sich seiner, sondern die Sirenen bezaubern ihn mit ihrem hellen Gesang, auf einer Wiese sitzend, und um sie her ist von Knochen ein großer Haufen, von Männern, die verfaulen, und es schrumpfen rings an ihnen die Häute ein. - (hom)

Gesang (6)   Allen pikanten Gerichten voran glänzt der Heringssalat. Die  Nachtigall beginnt am Kopf zu singen. Der Hausherr hebt die Zunge, Vivat!, alle stoßen an. Nun pflanzt es fort, nun ergießt sich ein prickelndes Schlupfnetz die Tafel hinab, köstlich, köstlich, alle Damen pinkeln silbern, alle Herren seufzen »Mozart!«, alle Domestiken tragen auf vereinter Flosse den Zwischenakt auf: Friedrike die Neunte, Königin der Nacht. Der Hausfrau fällt eine Schuppe vom Herzen. - (pas)

Gesang (7)  Wenngleich der Gesang, der dem Mund entweicht, nachdem er die weiße Hürde der Zähne überwunden hat, wie die Sprache in der Kehle geboren wird und denselben Weg wie sie nimmt, unterscheidet er sich dennoch und nicht allein wegen seiner melodiösen Natur von jener, sondern weil er offenbar aus weit größerer Ferne angereist kommt. Tatsächlich scheint er aus der Brustgrube selbst oder oft sogar aus dem tiefsten Grund der Eingeweide hochzuquellen, mit Schwingungen befrachtet, die nur die Ausdünstungen sind, mit denen er sich während seiner Latenzzeit in jener unterirdischen Welt gesättigt hat. Sei es die Stimme eines arabischen oder besser noch eines andalusischen Sängers, die sich eine Furt quer durch die Organe zu brechen scheint, sich den Kanal einer engen, doch ausreichend durchlässigen Ritze bohrt und selbst die tiefsten Muskeln berührt; sei es die Stimme eines Opernkünstlers, aus reinem Fels gebrochen oder im weichsten Stahl geformt, wenn es sich um einen Sänger handelt; eine Stimme, die der schwülen Atmosphäre eines Treibhauses entströmt oder sich in zerbrechlichen Glasfasern spannt, wenn es sich um eines jener Geschöpfe handelt, die man statt »Sängerinnen« lieber »Primadonnen« nennt, obwohl der »Primadon« als Gattung unbekannt ist; sei es eine Allerweltsstimme, die dem beliebigsten Wesen zur fadesten Romanze oder zum albernsten Refrain dient: geheimnisvoll ist die singende Stimme verglichen mit der sprechenden Stimme.   - Michel Leiris, Die Spielregel I. Streichungen. München 1982 (zuerst 1948)

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