erechtigkeit  Es ist ganz gewiß, daß diese scheußlichen Mißgeburten vom Urteil, der Gerechtigkeit, der Strafe und dem Fluch Gottes herrühren, der zuläßt, daß die Väter und Mütter solche Scheusale zeugen, zum Grauen vor ihrer Sünde, weil sie sich ungeniert, wie die wilden Tiere, stürzen, wohin ihre Lust sie führt, ohne Beachtung der Zeit, des Ortes oder anderer Gesetze, die die Natur gebietet.

- Aus den Histoires prodigieuses des Pierre Boistuau, 1560, nach (bisch)

Gerechtigkeit (2) Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teilnehmer dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann. Es ist besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe; denn wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben. - Immanuel Kant, nach: Alexander Kluge, Lebensläufe. Stuttgart 1962

Gerechtigkeit (3) In jener Sammlung des alten römischen Rechts wurde zum Beispiel unterschieden, ob bei einem Schlag, den einer einem anderen versetzte, das Blut dann »auf die Erde fiel« oder nicht. Denn tropfte das Blut bis hinab auf die Erde, so mußte die Strafe höher sein. Und es machte auch einen Unterschied im Gesetz, ob das Blut von einem Schlag auf den Schädel erdwärts rann, oder von einem tieferen Schlag, und sogar, ob das erst nach dem dritten Hieb geschah oder schon davor, und ob der Schlag mit der flachen Hand geführt wurde, mit der Faust oder einem Prügel, und ob die Tat zum Urheber einen Freigeborenen, einen Sklaven, einen »Franken« oder einen Barbaren hatte, was umgekehrt ebenso für das Opfer galt. Und für Frauen, die so geschlagen wurden, gab es wiederum andere Bestimmungen wie für Männer, so daß der Paragraph oder »Titel« vom Hauen und Bluten, um halbwegs umfassend zu sein, zu noch und noch Untertiteln auswuchs. Auch die Bestimmung der Strafe gegen den, der ohne Einverständnis der Eltern einem Buben die Haare abschnitt, kam nicht mit einem einzigen Satz aus, sondern benötigte als Gesetz Variationen, allein schon je nachdem, ob das Kind ein langhaariges war oder nicht, und so weiter, und vor dem damaligen Gesetz war es auch nicht gleich, ob ein einheimischer (römischer) Mann einer Einheimischen (Römerin) den Arm »zusammenschnürte«, oder an ihm »riß«, und ob er sich dabei an der Frau unterhalb von deren Ellenbogen vergriff, oder oberhalb. (Eine ganz dem widersprechende Form von Gerechtigkeit dann etwa in dem Paragraphen vom Anzünden fremder Häuser »über schlafenden Menschen«, welcher sich untergliederte danach, ob die Schläfer drinnen Einheimische waren oder nicht, und im letzten Absatz gleichermaßen sich auf das Feuerlegen an Viehställen und, in seiner allerletzten Spielart, an Schweinekoben ausdehnte, wofür er, so bilde ich mir ein, dasselbe Strafmaß wie für Brandstiftung über unrömischen Schläfern festsetzte.) - Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt am Main 1994

Gerechtigkeit (4) KOMTUR: Don Juan, das Verharren in der Sünde führt zu einem grauenhaften Tode. Und wer die Gnade des Himmels verschmäht, den treffen seine Blitze.

DON JUAN: O Himmel! Wie wird mir? Ein unsichtbares Feuer verbrennt mich. Ich kann nicht mehr! Mein ganzer Körper wird ein flammender Scheiterhaufen! Ach! Donner und Blitz, die Erde spaltet sich, Don Juan und der Komtur versinken. Flammen steigen aus der Tiefe auf

SGANARELL: allein Ach und Weh! Mein Lohn! Mein Lohn! Da hat nun ein jeder seine Genugtuung durch dieses Ende! Der beleidigte Himmel, die verletzten Gesetze, die geschändeten Mädchen, die entehrten Familien, die beschimpften Eltern, die verführten Ehefrauen, die betrogenen Männer - die ganze Welt ist zufriedengestellt. Ich allein bin der Unglückliche. Mein Lohn, mein Lohn, mein Lohn! - Molière, Don Juan. In: Molière, Werke. Übs.  Arthur Luther, R. A. Schröder, Ludwig Wolde. Wiesbaden 1954 (Insel)

Gerechtigkeit (5) Plato, Republic 1.7.332d: Justice is the art which gives good to friends and evil to enemies. - laudator temporis  acti

Gerechtigkeit (6) Bei der ersten Kreuzung tut sich ein kreisförmiger Platz auf und in seiner Mitte liegt ein etwas dürftiges Beet und in der Mitte des Beetes steht ein Denkmal der Gerechtigkeit, eine große, plumpe, umfangreiche weibliche Figur. Ich bleibe stehen, um sie mir aus der Nähe anzusehen, und während ich die schwerfällige, undurchsichtige Form betrachte, tritt ein würdiger Herr an meine Seite, der mich fragt, ob ich eine glaubwürdige Beschreibung der Statue hören wolle. Bevor ich überhaupt zum Nachdenken komme, bemerke ich, daß ich schon ja gesagt habe; aber andererseits ist die Zeit, die mir für die Zeremonie des Spazierganges zur Verfügung steht, zwar schwer meßbar, doch praktisch unbegrenzt.

»Was Sie hier bewundern können«, so beginnt der würdige Herr, »ist die Statue der Gerechtigkeit. Die Stadt ist mit Recht stolz darauf, ein vom ideologischen Standpunkt aus so bedeutungsvolles Denkmal zu besitzen. Hier können Sie die Waage bewundern« - und dabei deutet er auf jenen selbstverständlichen und aufreizenden Gegenstand -, »welche Gleichheit und Strenge darstellt. Beachten Sie nun die riesigen Hinterbacken, sie bürgen dafür, daß die Gerechtigkeit auf keine Weise herausgefordert werden soll und daß sie ein sicherer Ort, ja ein Thron ist. Die Frau ist, wie Sie sicher schon festgestellt haben, nidit schön; ein einschmeichelndes Aussehen gehört nicht zu den Obliegenheiten der Gerechtigkeit, sie soll eher leicht abstoßend wirken. Sie schmeichelt niemandem, sie liebt niemanden, sie kennt niemanden. Ihr Blick ist, wie Sie feststellen können, abwesend und leer, denn sie interessiert sich nur für sich selbst. Dennoch ist ihre Macht ungeheuer. Ich meine die Macht«, wiederholt bekräftigend mein Führer, »nicht so sehr des Begriffes Gerechtigkeit als vielmehr dieser Statue hier, dieses Denkmals. Es ist nun schon mehrere Jahre her, da wurde ein alter, beinahe neunzigjähriger Mann angesichts dieser Statue von einem plötzlichen Krampf erfaßt, worauf er zwei ungesühnte Verbrechen gestand, die er in seiner fernen Jugend begangen hatte. Aus sinnlicher Eifersucht hatte er seinen besten Freund ermordet; er hatte ihn friedfertig auf einem Ausflug ins Grüne begleitet und ihn dann in einen finsteren Abgrund gestürzt, wo er mit einem langen, wohltuenden Schrei zerschellt war. Auch einen zufälligen, unschuldigen Zeugen hatte er umgebracht und später noch einen melancholischen Herrn, der ihn zu verdächtigen schien. Alle diese Leichen hatte er in denselben Abgrund hinuntergestürzt, den er mit nahezu didaktischer Klarheit beschrieb und angab. Die Nachforschungen, die man sogleich anstellte, brachten keine Spuren des so lange vergangenen Verbrechens zutage; mochte sie nun die Zeit verwischt haben oder mochten die beiden Verbrechen nie geschehen sein. Der Alte, den man somit nicht anklagen konnte, verfiel in eine Art Wahnsinn. Er behauptete, die hier abgebildete Dame, die Gerechtigkeit, würde es nicht dulden, daß er unbestraft sterbe. Er fing an, von Verbrechen zu erzählen, die er an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten kaltblütig und mit abscheulichen Mitteln begangen haben wollte; alle ganz offensichtlich erlogen. Es trat schließlich klar zutage, daß nunmehr zwischen dem Greis und der Statue - mochte dieser nun ein Verbrechen begangen haben oder nicht ~ eine Beziehung bestand, die nur durch einen Akt der Gerechtigkeit beschwichtigt werden konnte. Ein wohlmeinender Heuchler schob dem Alten ein nie geschehenes Verbrechen in die Schuhe und der wurde zu einer strengen Haft verurteilt, die er in absoluter Freiheit und mit einem sicheren Gehalt abzubüßen hatte; der schuldige Alte verlebte einige Jahre unverschämten Glückes, und die obszönen Inschriften auf den Brüsten der Statue, die, wie Sie sehen können, die Zeit schon fast, aber doch noch nicht ganz ausgelöscht hat, sind das Werk des verbrecherischen Greises. Zufällig wurde einige Jahre nach seinem Tod in dem bewußten Abgrund ein Schädel gefunden, und es ist nicht unmöglich, daß er das Verbrechen wirklich begangen hatte, das allen als Gegenstand einer leichtfertigen Prahlerei erschienen war. Die Gerechtigkeit, mein Herr, kann nicht verzeihen; und wenn sie kein vernünftiges Verbrechen findet, protestiert sie gegen ein unsinniges. Denn nicht das Verbrechen, mein Herr, schafft die Gerechtigkeit, sondern diese jenes. Ich hoffe, die Betrachtung dieses machtvollen und unförmigen Wesens wird Ihnen unterwegs Trost spenden.«   - Giorgio Manganelli, Brautpaare. In: (irrt)

Gerechtigkeit (7)  Ein Ritter fand einen Brunnen in der Wüste, trank und ließ versehentlich seinen Geldbeutel liegen. Ein Armer kam, trank auch, fand den Beutel, nahm ihn und ging weg. Nach einiger Zeit kam der Ritter in scharfem Galopp zurück, suchte seinen Beutel. Am Brunnen saß nun ein anderer Armer, der eben erst getrunken hatte. Der Ritter fragte ihn nach dem Beutel. Er wußte nichts davon. Der Ritter aber glaubte ihm nicht und schlug ihn nieder. Im Himmel saß Moses. Gott sah den Mord und zeigte Moses, was sich hier abspielte. Moses war entsetzt, sagte: da wäreja ein furchtbares Unrecht geschehen. Da sagte Gott: «Ich werde es dir erklären. Der Ritter hat den Bettler erschlagen, der ihm den Beutel nicht genommen hat. Aber dieser Bettler hat vor langen Jahren den Vater des Ritters erschlagen. Darum bringt er ihn jetzt um. Und den Geldbeutel hat nicht er, sondern der erste Bettler und freut sich daran. Wer aber ist der erste Bettler; Das ist ein Mann, den ebenjener Ritter mit Gewalt um sein Hab und Gut gebracht und zum Bettler gemacht hat. Darum nimmt er jetzt sein Hab und Gut wieder.   - Alfred Döblin, Reise in Polen. München 1987 (zuerst 1925)

Gerechtigkeit (8)  Zu Bamberg, auf Kaiser Heinrichs Grab, ist die Gerechtigkeit mit einer Waagschale in der Hand eingehauen. Die Zunge der Waage steht aber nicht in der Mitte, sondern neigt etwas auf eine Seite. Es gehet hierüber ein altes Gerücht, daß, sobald das Zünglein ins Gleiche komme, die Welt untergehen werde.   - (sag)

Gerechtigkeit (9) Witold Gombrowicz:  »Warum umfaßt die kommunistische Gerechtigkeit ebenso wie die katholische nicht die Tiere. Die Menschlichkeit dieser Doktrin endet beim Menschen. Sie verbietet die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, stimmt aber der Ausbeutung der Tiere zu. Was nicht sehr logisch ist. Nicht in Ordnung ist. Denn wenn eine Religion die Tiere als Seelenlose an den Rand drängt, so kann es doch für den Materialismus keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen leidender Materie . und menschlicher Materie geben.« -  Nachwort zu (arc)

Weltordnung Gefühle, moralische

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