Genus irritabile    Daß die Poeten (das Wort in seinem umfassendsten, jede Art Künstler einbeziehenden Sinn genommen) ein genus irritabile sind, versteht sich sozusagen von selbst. Warum dies so ist, scheint jedoch nicht so eingängig zu sein. Der Künstler ist Künstler nur vermöge seines hochgradig verfeinerten Schönheits-Sinns - eines Sinnes, der ihn zu höchstem Entzücken hinreißen mag, gleichzeitig aber einen ebenso hochgradig entwickelten Sinn für die Ungestalt und das Mißverhältniß implicirt. Derhalben kommt's, daß jede Ungebühr - jedwede Ungerechtigkeit -, die einem Dichter widerfährt, ihn, falls er ein ächter Dichter ist, bis zu einem Grade aufbringt, welcher in den Augen des normalen Sterblichen in keinem Ver-hältniß mehr zu dem betreffenden Unrechte steht. Die Dichter sehen das Unrecht ~ freilich niemals dort, wo's keins zu sehen giebt, sehr oft hingegen dort, wo der unpoetische Mensch keinerlei Unrecht wahrzunehmen vermag. Demgemäß darf man aber die Irritabilität des Dichters nicht in Beziehung setzen zu Dem, was man gemeinhin unter Reizbarkeit versteht, sondern muß sie einer überdurchschnittlichen Hellsichtigkeit in allen Stücken des Unrechts zugute halten: einer Hellsichtlg-keit, welche nicht mehr und nicht weniger ist denn die natürliche Folge einer scharf unterscheidenden, dem Leben verbundenen Auffassung von Recht, von Billigkeit, von Eben-Maß - mit einem Wort, von all Dem, was die Alten als 'das Schöne' bezeichnet haben. Eines aber steht fest: Der ist kein Dichter, der da nicht «irritabel»ist - nicht «reizbar» im üblichen Wort-Sinn. - Edgar Allan Poe, Fünfzig Einfälle. Nach: E. A. P.,  Werke IV. Olten und Freiburg 1966
 

Erregung Reizbarkeit

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