Genitalogie       Genitalisch: absolut so und nicht anders ist das Weltbild des prähistorischen Homo sapiens, bis er sich eines Tages davon abwendet, und zwar aus Gründen, denen unser Interesse und unsere Untersuchung gilt.
Belege für den Ur-Genitalismus entdecken wir jedenfalls in allen Religionen und in deren schriftlichen Zeugnissen. Die jenseitsbezognen Utopien in Bibel und Koran von einem naiv-nudistischen Garten Eden, wo durch die Schlange (Phallus-Symbol) Unheil geschieht, und von einem islamisch-drastischem Paradies, wo »großäugige Huris, deren Schweiß nach Moschus riecht und deren Fleisch so zart ist, daß das Mark ihrer Beine hindurchschimmert«, sind nichts weiter als letzte Erinnerungsblasen untergegangener Erkenntnis einer allumfassenden, allgegenwärtigen, allzeit funktionstüchtigen Genitalitat.
Konträre und doch zusammengehörige Ggensätze herrschen: Mann und Weib, Sonne und Mond (als Sol und Semele personifiziert, Yin und Yang, Tag und Nacht, Oben und Unten, Berg und Tal, Fels und Spalte. Die scheinbar höchst moderne Entdeckung Freuds, die Sexualsymbolik der Dinge, ist im Grunde nur ein inkonsequenter Rückgriff, der genitale Gegenständlichkeit als deren übertragenes Bild zu statuieren suchte, obwohl sie durchaus anschauliche, greifbare Relitat der geschlechtlich tätigen Welt ist. Eine Ahnung davon steckt noch in der griechischen Mythologie: Die Nacht paart sich mit dem Erebus, dem alten maskulinen Sitz der Finsternis, eine Hodenmetapher vermutlich, und gebiert den Äther und den Tag. Gaia, die Erde, erzeugt aus sich heraus ihren eigenen Gatten und Begatter und mit ihm wiederum Kinder, die jener, Uranos, mit Recht fürchtet. Denn der jüngste Sohn, Kronos, neidisch auf Pappis Wollust und diese selber verlangend, kastriert seinen Alten in dem Augenblick, da dieser Gaia bestiegen: mit einer Sichel, welche Gaia selbst ihm zu diesem blutrünstigen Zweck geschmiedet; hier ist die zentrale Bedeutung des Genitals noch ganz offensichtlich: Herrschaft besteht noch in der Vorherrschaft eines speziellen Instrumentes, und der Rebell, verschworen mit der Beherrschten, muß dieses Instrument beseitigen, um durch sein eigenes an gleicher Stelle neue Herrschaft zu konstituieren. Kronos, nun anstelle des Entmannten und gewitzt durch selbstvollstrecktes Beispiel und Erfahrung, frißt sicherheitshalber die eigenen Kinder auf, gleichem oder ähnlichem Schicksal zu entgehen: ein Vorgang, bei dem es sich ebenfalls nur um eine ins Bild übersetzte, anti-konzeptionelle, post-coitale Praktik handelt, die jedoch letztendlich nicht die Geburt eines neuen omnipotenten überpotenten Mannvaters verhindert: des Zeus. Mit ihm wird der Genitalismus amorph, weil antropomorph, auch wenn der Herr des Olymp, einer steinharten himmelhohen Super-Erektion, hier und da noch als Stier, als goldener Regen oder Blitz erscheint; die Verdrängung des konkret Geschlechtlichen vollzieht sich unaufhaltsam. Und was nach den Pelasgern und Kretern kommt, deren berühmtes Labyrinth ein künstlich geschaffener Schoß gewesen, in dem man »opfert«, dem allgemeinen genitalischen Beispiel zufolgte, ist wachsendes Vergessen: die griechischen Okkupanten vollzogen den kosmischen Beischlaf Überhaupt nur noch rituell und ideologisch verdeckt in ihren Mysterien nach, oder reduzierten ihn gar bei ihren heiligen Spielen zum Gottesdienst, den orgia, und entzogen ihm somit den Primat, indem sie ihn als Stufe zu einer nicht mehr fleischlichen Erlösung ansahen. So beginnt Verfall und Dekadenz! Außerhalb des mediterranen Kulturkreises aber, in welchem es von nun an im wahrsten Sinne des "Wortes mit den Geschlechtsteilen abwärts geht, behält die Pan-Sexualitat ihre urtümliche Relevanz. Und logischer-, wenn auch seltsamerweise leitet uns dabei der Name Zeus: in der Religion des indischen Veda erscheint er als Dyauspitor: Vater Himmel! Bei der Urbevölkerung des Subkontinentes wie bei den Draviden, selbst bei den späteren Ariern, bleibt die Eindeutigkeit des Eindeutigen eindeutig. Keine Transformation der nimmermüden Organe findet statt: jedes Ding wird beim Namen genannt. Sogar die indischen Säkula verlaufen nicht in monotoner Chronologie, sondern heben langsam an, steigern sich rhythmisch, verknappen und verkürzen sich, um einen Höhepunkt zu erreichen, nach welchem wieder ein neues Zeitalter ganz sachte und präliminarisch anfängt: der Aufstieg zur kosmischen Klimax ist in vier Hauptstufen unterteilt;

Krita: 1 728 000 Menschenjahre
Treta: 1 296 000 Menschenjahre
Dvapara: 864 000 Menschenjahre
Kali: 432 000 Menschenjahre

Nach 4 320 000 Menschenjahren erfolgt der Orgasmus organischer wie anorganischer Materie, nach desses Abklingen aufs neue der umfassende Akt einsetzt. Zur Erhärtung des Gesägten sei zusätzlich auf die Tanka-Texte und die des Schaktisrnus verwiesen, die auf uralte vorarische Volkskulte der Verherung des weiblichen »Prinzips« zurückgehen; die nicht - wie antike Sublimierung und Symbolik Gestalten erfinden, sondern einen ungebrochenen Phallus- und Vaginalkult »bezeugen«, der an jeder Schlucht, jeder Kluft, jedem säulenartigen Stumpf mag vollzogen worden sein. Auch die heiligen Baume sind vorwiegend solche, an denen das masl kuline astig-erigierte Element mit dem femininen spaltig-gel Öffneten sich »paart«. Verehrt werden des weiteren aufge« richtete Steine, die an Shivas Lingam (PenisJ erinnern. All« natürlichen externen Formen, Schaft und Stamm, Halbkugel und Kegel, wie die internen, Höhle und Schacht, Grube und! Rinne, genießen Verehrung als sichtliche und wichtigste Be standteile lebenserhaltender Kopulation, und das allererste,! was Menschenhand in früher Konkurrenz dem hinzufügt, ist] die Furche, lat. Fossa, aus der neues Sein sprießt! Am klarsten steht es schwarz auf weiß in den Upanishaden, Mundaka 1, 1,72

Wie der Faden aus der Spinne fließt
Wie die Pflanze aus dem Boden sprießt
Wie der Samen aus dem Lingam dringt
So dem Ewigen das All entspringt.

In keiner anderen Religion als im Hinduismus, wahrscheinlich durch die um Epochen verzögerte Entwicklung einer technischen und damit das Denken auf äußerliche Zwecke richtenden Zivilisation, wurde das genitalische Weltbild so kontinuierlich bis in die Gegenwart tradiert, wenn auch partiell verschlüsselt, wie z. B. in der Idee von der ständigen Wiedergeburt, die ja eine ständige Permanenz der Zeugung voraussetzt. Anders ist die Metempsychose gar nicht deutbar. Daraus folgert, daß die Erlösung nur eine vom Trieb, vom Treiben des stetig selben Tuns sein kann: das Ausscheiden, semantische »Scheidenflucht«, aus dem Reigen, das Eingehen Ins Nirwana, ins Nichtmehrmüssenwollen. Bei den bereits erwähnten unvorstellbaren Zeiträumen, mit denen der indische Genitalismus redmet (so ist zum Beispiel ein Brahma-Jahr gleich -n 040 ooo ooo ooo Menschenjahren), verkehrt sich die endlose höchste Lust m tiefste Unlust und Depression, welche höchste Sehnsucht nach definitiver Auflösung in nichts hervorruft.

Alles das haben die Mittelmeer-Anrainer vorzeitig verdrängt, teils zu Kultur sublimiert, teils in Kriegen abreagiert, weil -und jetzt soll das Motiv der Verdrängung endlich aufgedeckt und entblößt werden - sie bereits früh spürten, im Wettbewerb mit der Geschlechtlichkeit und Geschlechtstätigkeit des Universums unterliegen zu müssen. Aus Furcht vor dieser sexuellen Niederlage hat der prähistorische Mensch, ohne technische Mittel, die seinen physischen zu vergrößern und zu vervielfachen! und ausgesetzt dem Widerspruch zwischen Allorganen und den eigenen, einfach beschlossen, fernerhin die allgemeine Genitalität zu ignorieren. Die selbstvoüstreckte Blendung führt freilich im Verlauf der Millenien dazu, daß seine Fantasie, auf deren sinnliche Basis er verzichtet hat, immer blasser und dürrer wird und sein Weltbild immer bildärmer, nämlich abstrakter. Zum Schluß gerinnt ihm jede Vorstellung von der Welt zu Philosophie, deren ständige Korrektur sich zur Sysiphosarbeit auswächst, weil nur statische Zustände interpretiert und das dynamische Hinundher und Aufundab nicht erklärt werden können: hat man sich gerade einen einigermaßen logischen Reim auf einen Zustand gemacht, besteht dieser schon nicht mehr. Anders ausgedrückt: der unfreiwillige Voyeur, der die beobachtete Paarung für eine Paarung zu halten sich weigert, sucht angestrengt nach einer Erklärung für das Wesen des Wesens mit zwei Rücken und vier Beinen, und hat er endlich eine, erklärt sie ihm nicht, wieso und warum da plötzlich eine Teilung und Trennung und Verdoppelung eintreten konnte, und falls er nach Äonen tiefen Nachdenkens dahintergekommen zu sein scheint, hat sich seiner Theorie zuwider vor ihm eine neue, gänzlich anders gelagerte Einheit gebildet. Bestenfalls in seiner Dialektik nachempfindet er etwas vom dualistisch-genitalen Werk von Zeit und Raum.

Und erst heute, im ausgehenden zweiten Jahrtausend nach Christi, da sich auf Cap Kennedy und in Baikonur gewaltige Lin ga aufrichten, die jedem Shiva Paroli bieten können, und phallisdi geformte U-Boote in die tiefsten Spalten de! Ozeanböden hinabtauchen, scheint etwas wie ein Durchbruch zu den vergessenen und verleugneten Grundlagen sich zu vollziehen: in dem, was oberflächlich »sexuelle Revolution« genannt wird, und was nichts anderes ist als die Rückkehr zum unkompliziert-logischen Welt-Verständnis, jetzt jedoch verbunden mit dem Mut dessen, der vor die alten kraftstrotzenl den Götter, vor die überquellende Natur, vor das rastlos zeul gende Universum treten kann, da er seine genitale Position ia genialer Weise überdimensioniert und sein Selbstbewußtsein solchermaßen wieder »aufgerichtet« hat.  - Günter Kunert, nach (weltb) 



Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

 

Synonyme