- Franz Rottensteiner, Nachwort zu: Henry Rider Haggard, Nada die Lilie.
München 1980 (zuerst 1892)
Gemütsmensch (2) Brown war
ein Freibeuter der neueren Zeit — schlimm genug
— seinen berühmteren Vorbildern gleich; aber
was ihn vor den Schurkenbrüdern seiner Zeit auszeichnete — vor Bully Hayes
oder dem honigsüßen Pease, oder jenem parfümierten, stutzerhaften Lumpen
mit dem langen Backenbart, der Schmutzig-Dick genannt wurde —, war der
hochmütige Zug seiner Missetaten, und eine leidenschaftliche
Verachtung der Menschheit im allgemeinen wie
seiner Opfer im besonderen. Die anderen waren nur niedrige und gierige
Rohlinge, er dagegen schien von einer komplizierten Absicht geleitet zu
werden. Er konnte einen Menschen ausrauben, so als wollte er damit nur
die niedrige Meinung dartun, die er von diesem Geschöpf hatte, und er konnte
in das Erschießen oder die Verstümmelung eines stillen, harmlosen Fremden
einen wütenden und rachgierigen Ernst legen, der geeignet gewesen wäre,
dem kecksten Desperado einen Schrecken einzujagen. In den Tagen seines
größten Ruhms besaß er eine bewaffnete Bark mit einer gemischten Mannschaft
aus Kanaken und ausgerissenen Walfischfängern
und rühmte sich — ich weiß nicht mit wieviel Recht — insgeheim von einer
höchst angesehenen Koprahandelsgesellschaft finanziert zu werden. Später
— so wurde berichtet — brannte er mit der Frau eines Missionars durch,
einem sehr jungen Mädchen aus der Gegend von Clapham, die in einem Augenblick
der Begeisterung einen sanftmütigen, plattfüßigen Kerl geheiratet, dann
aber plötzlich, als sie nach Melanesien verpflanzt wurde, ihren Halt eingebüßt
hatte. Es war eine finstere Geschichte. Sie war krank zu jener Zeit, als
er sie davontrug, und starb auf seinem Schiff. Als schönster Teil der Geschichte
wird berichtet, er habe sich über ihrem Leichnam zu einem Ausbruch schwermütigen
und wilden Grams hinreißen lassen. Auch das Glück verließ ihn bald darauf.
- Joseph Conrad, Lord Jim. Zürich 1974 (zuerst 1900)
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