elehrter,
japanischer Der Erzähler ist der alte gelehrte Shuntarô Miike,
er hat vor dem Ersten Weltkrieg sieben Jahre lang unter Professor Schwalbe in
Straßburg über die den Muttermalen ähnlichen blauen Flecken bei Kindern studlert,
nebenbei aber auch grundlegende Forschungen zu seinem Lebenswerk über die Weichteil-Anatomie
betrieben. Nachher hat er ein Jahr lang im Leydener Museum in Holland die Schädel
von etwa tausend Filipinos gemessen. Nach Japan zurückgekehrt, Mitglied der
japanischen Akademie, Träger eines großen Preises, Dekan einer medizinischen
Fakultät, schreibt er auf deutsch sein Lebenswerk über das Arteriensystem der
Japaner, das er nie vollenden und das niemand lesen wird. ›»Ach, sie alle haben
keine Ahnung von dem, was ich bisher schrieb. Keiner von Ihnen wird begreifen,
daß aus diesem Vorwort der unsterbliche Ruhm des Gelehrten Shuntarô Miike strahlt.
Hiroyuki könnte, selbst wenn er wollte, nicht ein Wort davon verstehen. Ich
weiß nicht, wieviele Jahre er Deutsch in der Schule gelernt hat, aber es gibt
wenige, die sich so wie er im Vergessen auszeichnen. Sadamitsu übersetzt Goethe.
Von ihm könnte ich mir vorstellen, daß er diese Sätze versteht, doch vielleicht
begreift er nichts anderes als Goethe - so war er schon immer. Und nicht einmal
was seinen Goethe betrifft, kann man sicher sein, daß er ihn richtig erfaßt.
Ich weiß nichts von dem Dichter Goethe, aber vielleicht ist Goethe bei ihm genauso
launisch und schwierig geworden, wie er selber ist. Doch bestimmt war Goethe
nicht so egozentrisch wie Sadamitsu, nicht so unfähig, mit seinem Vater und
seinen Geschwistern zurechtzukommen. Sadamitsu kennt auf der Welt nichts anderes
als Goethe. Es ist schrecklich mit diesem Sohn, der keine Ahnung hat, was sein
Vater tut. Er weiß nicht das geringste von der Bedeutung, von dem hohen wissenschaftlichen
Wert meiner Forschungen über das japanische Arteriensystem, von meinem bescheidenen,
doch wichtigen Werk über die Weichteil-Anthropologie.‹« - Nach: Friedrich
Dürrenmatt, Einführung Yasushi Inoue. In: F. D., Versuche. Zürich
1991
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